Laubmann 2 - Bärenzwinger
hatte, gingen auf diese, hauptsächlich lateinamerikanische, Bewegung ein. Sie interpretiere die christliche Lehre, so ihre Kritiker, als radikalen Aufruf, die Fesseln der Unterdrückung durch Großgrundbesitzer und Kapitalisten abzuschütteln und in Basisgemeinden das Evangelium eher im Stil einer «sozialistischen Urgemeinde» zu leben. Aber, so dachte sich Laubmann, sollte Kirche nicht immer im Hier und Jetzt verortet sein und ganz entschieden ihre Verantwortung gegenüber den Benachteiligten wahrnehmen?
Forster gestand ein, daß er sehr traurig war, als Boff 1992 nach den lehramtlichen Auseinandersetzungen mit dem Vatikan den Franziskanerorden verlassen und sein Priesteramt niedergelegt hatte. «Er lebt aber noch in Petrópolis.»
«Sind Sie denn noch im Orden?» wagte Laubmann Forster zu fragen.
«Ich war nie in einem Orden und habe mich auch nie zum Priester weihen lassen. Ich konnte mich nie so recht dafür entscheiden. Obwohl ich drüben sehr eng mit den Franziskanern verbunden bin und mich fast wie ein Mitglied der Gemeinschaft fühlen darf.»
«Das geht mir hinsichtlich des Priesterseins ganz genauso!» Laubmann berührte Forster vertraulich am Arm. «Ich bin mir seit Jahren nicht sicher, ob ich mich zum Priester weihen lassen sollte oder nicht. Ich bin mir einfach nicht im klaren darüber, ob ich eine Berufung in mir verspüren kann.»
Was beide allerdings in diesem Moment zweifellos spüren konnten, war die Kälte, die sie nun doch frieren ließ – den Professor mehr als Laubmann –, und das verbunden mit einem Hungergefühl. Schließlich stand das Abendessen im Speisesaal bevor, weshalb sie sich auf den Weg dorthin machten.
«Ist es in Brasilien zur Zeit auch so kalt?» wollte Laubmann wissen.
«Wie in Brasilien das Wetter ist? Das kann ich nicht genau sagen. Ich bin ja selbst schon seit ein paar Wochen in Deutschland und wohne hier in der Nähe bei Freunden. Aber kalt ist es bestimmt nicht. Zur Zeit ist in Brasilien Sommer, und da ist es wirklich sehr heiß. Manchmal unerträglich. Daher haben die Franziskaner ihre Niederlassung Ende des 19. Jahrhunderts im kühleren Petrópolis gegründet. Das liegt zwar nur 40 Kilometer nördlich von Rio, aber
1000 Meter höher.»
Laubmann brach allein bei dem Gedanken an den tropischen Urwald der Schweiß aus, zumal sie gerade den überheizten Speisesaal betraten. Er stellte sich die heiß brodelnden Städte vor und die flimmernde nächtliche Hitze, wenn auf den Straßen Sambatänzerinnen auftauchen und lärmende Musik die Luft erfüllt. Schon griff er nach seinem Stofftaschentuch.
«Geht es Ihnen nicht gut?» Professor Forster reagierte teilnahmsvoll und verwundert zugleich.
«Ist schon in Ordnung. Ich hab nur an die Hitze in Rio gedacht.» Er mußte über sich lachen.
«Wir sollten unsere Schwächeanfälle koordinieren und eine ständige medizinische Begleitung erbitten», bemerkte Forster selbstironisch.
***
«Ich gehe jetzt zu Grunde – um der Wahrheit willen», scherzte Laubmann gegenüber Gisela Merten an der Rezeptionstheke, nachdem er eine Dose Pfefferminzdragees erworben und davon sogleich eines in den Mund gesteckt hatte. Er hatte sich nach dem Abendessen ein wenig frisch gemacht und war nun auf dem Weg zum Eröffnungsvortrag im Konferenzsaal.
«Ich verstehe schon, Sie gehen laut Tagungsprogramm zu Herrn Professor Doktor … Doktor… zweimal Doktor? Ist uns da ein Fehler unterlaufen?» Gisela Merten schaute genauer hin.
«Nein, er ist Doktor der Theologie und Doktor der Philosophie», verdeutlichte Laubmann, «wohingegen ich nur ein einfacher Doktor der Theologie bin.»
«Man muß immer bei der Wahrheit bleiben.»
‹Die Wahrheit im Kontext der Geistesgeschichte. Ein Überblick.› Darüber wollte Professor Dr. Dr. Helmuth Grunde aus Hamburg sprechen und war deshalb nicht ansprechbar, als er an ihnen vorbeieilte.
«Der Vortrag würde mich auch interessieren», meinte die Tochter des Kastellans und nahm ein von Laubmann angebotenes Pfefferminzdragee. «Leider hab ich keine Zeit. Ich muß hier an der Rezeption bleiben.»
«Vielleicht kann ich Ihnen morgen eine Zusammenfassung geben», bot Laubmann an.
«Das wird nicht nötig sein. Die meisten Referate werden überarbeitet und in einem Tagungsbericht veröffentlicht.» Sie merkte schon, daß der Moraltheologe immer Gelegenheiten suchte, mit ihr zu plauschen.
Philipp wollte sich keine Blöße geben. «Ich werde vermutlich eh nicht sehr aufmerksam zuhören können. Die letzte Nacht,
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