Laubmann 2 - Bärenzwinger
vom Schwitzen himmelweit entfernt war; denn am Morgen war es kalt in der Burg. Er trug ihn wieder, den schwarzen, klerikal wirkenden Pullover aus dem Wollgeschäft seiner Cousine Irene, den sie ihm vor Monaten «wärmstens» empfohlen hatte. Das sinnlose Warten in der kaum beheizten Burgkapelle steckte ihm in den Knochen. Vor allem jedoch hatte sich ihm das Erlebnis am Marcus-Grab aufs Gemüt gelegt und Schlaflosigkeit verursacht. Er fühlte sich einfach derangiert, hinkte noch immer ein bißchen und hatte zudem einen Hustenreiz, als er sein Zimmer verließ.
Es war wirklich sehr früh am Morgen, dunkel nach allen Seiten; selbst die Frühmesse würde erst in geraumer Zeit beginnen. An Frühstück gar war noch lange nicht zu denken. Abgesehen von Laubmann war Gisela Merten bald aufgestanden, um für die wissenschaftliche Tagung ihre vielfältigen Organisationsarbeiten zu erledigen. Ferner waren neue Tagungen angesagt, und dafür waren Vorlagen zu erstellen oder Anmeldungen zu registrieren.
Schläfrig wandelte sie durch die Gänge der Babenburg, als hinge sie ihren Träumen nach. Deshalb nahm sie zur Rezeption und zu ihrem Büro nicht den allerkürzesten Weg in diesem Labyrinth aus Fluren und Mauerdurchlässen. Ihr Weg führte sie über einige Treppen; sie kam vorbei an den Zimmerfluchten, an gewölbeartigen Nischen, ausgestalteten Sitzecken und auch an der Bibliothek.
Sie war schon ein, zwei Meter weitergegangen, als sie ein spontaner Impuls innehalten ließ. War da nicht ein verhuschender Lichtschein gewesen, in der Art einer Taschenlampe? Durch die administrativ wirkende Türscheibe glaubte sie so etwas gesehen zu haben. Oder war es nur eine Lichtreflexion von anderswo her, ein Aufblitzen im Augenwinkel?
Sie mußte es kontrollieren. Jetzt war sie ganz wach, ihr Herz klopfte heftiger. Einen Schlüssel brauchte sie nicht; die Burgbibliothek war ja immer offen. Sie preßte unwillkürlich ihre Lippen zusammen, drückte die Türklinke herunter, schob die Tür langsam auf und stahl sich geradezu hinein, ehe sie das Deckenlicht anmachte. Vorsichtig schritt sie in die Tiefe des Raums, der ihr sonst so vertraut war, ging, vorbei an der Bibliothekstreppe, von Regalreihe zu Regalreihe und schaute links und rechts in die schmalen Gänge, die von den Regalen gebildet wurden. Sie war sich nicht recht bewußt, was passieren könnte.
Unbeschadet war sie fast bis zur gegenüberliegenden Wand vorgedrungen, an der eines der hohen kunstvoll verzierten Regale aus fürstbischöflicher Zeit aufragte, als in ihrem Rücken, in einer Ecke nahe der Tür, ein Bücherstapel umgestoßen wurde. Und noch bevor sie sich in ihrem Erschrecken umdrehen konnte, war das Deckenlicht verloschen und die Dunkelheit hielt sie gefangen. Sofort nutzte jemand die Chance und stürzte unerkannt aus dem Raum. Die Tür schlug zu, daß die Verglasung klirrte.
Gisela Merten war zunächst wie erstarrt, versuchte dann tief durchzuatmen und sich endlich vom nächstbesten Regal aus zu einer Lampe vorzutasten, einer Schreibtischlampe. Sie schaltete sie ein, sah sich aber kaum um, sondern eilte zur Tür, riß sie auf und rannte, so schnell sie konnte, hinaus, nur weg von hier. Wer weiß, wer noch so alles in der Bibliothek herumgeistert.
‹Hoffentlich laufe ich nicht genau demjenigen in die Arme, den ich in der Bibliothek überrascht habe›, bangte sie. Der hatte möglicherweise nichts Gutes im Sinn gehabt.
Tatsächlich lief sie an einer verengten und unübersichtlichen Stelle des Gangs voll in die Arme eines Mannes, ohne diesen im ersten Moment zu erkennen. Gottlob war es Philipp Laubmann; ihr Retter. Sie war ganz außer Atem und hielt sich für ein paar Sekunden beinahe zärtlich an ihrem Bekannten fest. Dann erzählte sie aufgeregt.
Unter anderen Umständen wäre Laubmann begeistert gewesen über ein solches Ereignis, bot es doch Gelegenheit, merkwürdigen Kausalitäten in einer Bibliothek nachzuspüren und eine außergewöhnliche Frau zu «retten». Im Augenblick brachte er jedoch nichts zusammen; denn er war ärgerlich über die notgedrungen schlaflos zugebrachte Nacht, die ihm erst in der Spätphase einen kurzen Schlummer geschenkt hatte. Allzubald war ihm jener wieder von der gnadenlosen inneren Unruhe entrissen worden. Er hatte zum Brevier gegriffen und danach getrachtet, die Unruhe zu besänftigen. Tröstende Gedanken hatte er ausgesucht, stille Gebete, gerichtet an einen leider viel zu ruhig waltenden Gott.
«In der Bibliothek war jemand! Das kann kein
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