Laura Leander - 03 Laura und das Orakel der Silbernen Sphinx
den bärbeißigen Kerl gefragt, ob irgendwo auf dem weitläufigen Anwesen noch ungebrauchte Rankhilfen zu finden seien. Und tatsächlich, Morduk hatte ihn darauf hingewiesen, dass sich noch Spaliere auf dem Speicher befänden. So hatte der Gärtner sich umgehend auf den Dachboden begeben, den er schon seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr betreten hatte.
Die Spaliere waren schnell gefunden. Ellerking packte sie unter den Arm und wollte sich bereits wieder die Stiege hinunterbegeben, als er plötzlich gedämpfte Stimmen hörte – die Stimmen zweier Schüler. Sie schienen direkt aus dem Kamin zu kommen. Verwundert blieb Albin stehen, näherte sich dem gemauerten Vorsprung des Schornsteins, hielt sein Spitzohr an die alten Backsteine und lauschte. Sekunden später schon wurde ihm klar, dass er sich nicht getäuscht hatte: Er konnte die Unterhaltung der Jungen jetzt deutlich verstehen.
Wort für Wort.
Den einen erkannte er auf Anhieb: Es war Lukas Leander. Den anderen jedoch konnte er nicht genau identifizieren. Der Stimmlage nach musste es sich allerdings um einen älteren Zögling des Internats handeln. Die beiden unterhielten sich über irgendwelche obskuren mathematischen Probleme, die für Ellerking einem Buch mit sieben Siegeln gleichkamen.
Der Kamin führte wohl an einer Wand von Lukas’ Zimmer entlang. Offensichtlich hatte man beim Einbau der Heizung das Loch für das Ofenrohr nicht zugemauert, sondern lediglich mit einer dünnen Abdeckung versehen, sodass jeder Laut aus dem Zimmer in den Schlot drang. Der Schornsteinschacht verstärkte die Geräusche offenbar wie ein Schalltrichter, sodass sie selbst im Speicher noch deutlich zu hören waren. Besonders dann, wenn man die eiserne Klappe öffnete, die dem Kaminkehrer zum Reinigen diente.
Seit dieser zufälligen Entdeckung schlich sich der Gärtner jedes Mal auf den Speicher, wenn er wissen wollte, was bei Lukas vor sich ging. Noch niemand hatte ihn bei seiner heimlichen Lauscherei entdeckt. Schade nur, dass Lauras Zimmer nicht auch an einen alten Schornstein grenzte!
Zum Glück hatte Albin Ellerking mitbekommen, dass der Hausmeister die unbekannte Besucherin zum Zimmer von Lukas führte, wo auch Laura sich aufhielt. Und so hatte er nicht einen Augenblick gezögert, den Speicher aufzusuchen.
Mit leichtem Ächzen ging Ellerking in die Knie – er war erst vierundvierzig Jahre, fühlte sich aber manchmal trotzdem wie ein alter Mann! – und hielt das gespitzte Nachtalbenohr an die Öffnung. Sein Grinsen wurde noch breiter: Er konnte nun jedes Wort verstehen, das bei Lukas gesprochen wurde.
Diese Tölpel!
Sie ahnten nicht im Geringsten, dass sie belauscht wurden. Aber sie standen auf der Seite des Lichts, und gegen Feinde war jedes Mittel erlaubt! Und wie hatte Quintus Schwartz erst gestern noch gemahnt: »Jedes Mitgefühl mit unseren Gegenspielern ist unangebracht und bringt unsere Mission nur unnötig in Gefahr!«
Und so schloss der Nachtalb die Augen und lauschte angestrengt, damit ihm kein einziges Wort entging.
Laura zwinkerte ihrem Bruder zu, bevor sie sich wieder an Rika Reval wandte. »Sie wollen also tatsächlich behaupten, dass Sigbert, der Drachentöter, identisch mit dem sagenhaften Siegfried aus dem Nibelungenlied ist?«
»Nicht ganz.« Wieder lächelte die Archäologin ihr scheues Lächeln. »Ich behaupte nur, dass dieser Sigbert das reale Vorbild für ihn abgegeben haben könnte.«
Laura zog eine Schnute. »Und wo ist der Unterschied?«
»Ganz einfach: Wie bei allen großen Sagen handelt es sich auch beim Nibelungenlied um die freie Nacherzählung historischer Ereignisse. Über die Jahrhunderte hinweg sind sie zunächst mündlich überliefert worden, bis sie schließlich aufgeschrieben wurden. Jeder Erzähler in jeder Generation hat sie nach eigenem Gutdünken ausgeschmückt, hat eigene Gedanken hinzugefügt oder weggelassen, was ihm nicht wichtig erschien. Auf diese Weise haben sich nicht nur die Geschehnisse, sondern natürlich auch die handelnden Personen, die Helden und die Schurken immer mehr von ihren realen Vorbildern entfernt, bis sie mit ihnen kaum mehr etwas gemeinsam hatten. Was übrigens nicht nur für das Nibelungenlied gilt, sondern auch für andere Mythen wie die Artussage oder die Gralslegende.«
»Und trotzdem besitzen sie alle einen wahren Kern?«, fragte Laura überrascht.
»Klaromaro«, sagte Lukas daraufhin.
Unwillkürlich schüttelte das Mädchen den Kopf. Aus welchen Worten hatte er diesen komischen
Weitere Kostenlose Bücher