Lauter reizende alte Damen
Oh, nur einen Augenblick… es kommt. Es kommt mir…«
Tommy sah sie zweifelnd an.
»Aus einem Fenster«, sagte Tuppence atemlos. »Aus einem Autofenster? Nein, das wäre ein falscher Winkel, nein. Am Kanal entlang… und eine kleine, gewölbte Brücke, und die rosa Hauswände, die beiden Pappeln, nein, nicht nur zwei, viel mehr. Es waren viel mehr Pappeln. Ach, wenn ich doch nur wüsste…«
»Nun lass das doch, Tuppence.«
»Es wird mir wieder einfallen.«
»Du liebe Zeit!« Tommy sah auf die Uhr. »Ich muss mich beeilen. Du und dein déjà-vu-Bild!«
Er sprang aus dem Bett und lief ins Badezimmer. Tuppence legte sich zurück und machte die Augen zu. Sie wollte die Erinnerung herbeizwingen.
Tommy schenkte sich im Esszimmer schon die zweite Tasse Kaffee ein, als Tuppence triumphierend zu ihm kam. »Ich hab’s. Ich weiß, wo ich das Haus gesehen habe. Von einem Zugfenster aus.«
»Wo? Wann?«
»Das weiß ich nicht. Ich muss nachdenken. Ich weiß, dass ich mir gesagt habe: Eines Tages werde ich dieses Haus besichtigen – und dann habe ich versucht, den Namen der nächsten Station festzustellen. Aber du weißt doch, wie das heute ist. Die Hälfte aller Stationen gibt es nicht mehr. Der nächste Bahnhof war verfallen, überall wuchs Gras, und es war kein Namensschild mehr zu sehen.«
»Zum Teufel, wo ist meine Aktentasche? Albert!«
Es begann eine hektische Suche.
Tommy kam zurück und verabschiedete sich atemlos. Tuppence betrachtete in tiefer Meditation ein Spiegelei.
»Auf Wiedersehen«, sagte Tommy. »Und bitte, Tuppence, misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen.«
»Ich glaube, ich werde ein bisschen mit der Eisenbahn herumfahren«, sagte Tuppence versonnen.
Tommy war die Erleichterung anzusehen. »Ja«, sagte er aufmunternd, »tu das. Kauf dir eine Netzkarte. Es gibt irgendeine Möglichkeit, für wenig Geld quer durch ganz England zu reisen. Das müsste für dich doch genau das Richtige sein, Tuppence. Du probierst sämtliche Züge aus und reist herum, bis ich wieder zurück bin.«
»Du musst Josh sehr herzlich von mir grüßen.«
»Ja, das werde ich.« Dann sah er sie mit einem besorgten Blick an und sagte: »Ich wollte, du könntest mitkommen. Hörst du, mach mir keine Dummheiten!«
»Natürlich nicht«, sagte Tuppence.
6
» O je!« seufzte Tuppence. »Oje, oje.« Sie betrachtete die Welt aus kummervollen Augen. Noch nie hatte sie sich so unglücklich gefühlt. Natürlich hatte sie gewusst, dass Tommy ihr sehr fehlen würde, aber wie sehr er ihr fehlte, hatte sie nicht vorausgeahnt.
Während der langen Ehejahre hatten sie sich so gut wie nie für längere Zeit trennen müssen. Vor der Heirat hatten sie gemeinsam Schwierigkeiten bestanden und Gefahren erlebt; sie hatten geheiratet und zwei Kinder bekommen. Und gerade, als die Welt ein wenig langweilig und durchschnittlich wurde, dämmerte der Zweite Weltkrieg herauf und brachte neue Aufregungen und Gefahren, weil sie gemeinsam für die britische Abwehr arbeiteten. Durch einen glücklichen Zufall und Tuppences Zähigkeit hatten sie auch in dieser Zeit zusammenbleiben können.
Aber diesmal klappte es nun wirklich nicht. Es gab überhaupt keine Möglichkeit, in das geheimnisvolle Landhaus einzudringen und an den Sitzungen der IUAS teilzunehmen. Es ist ein Club für alte Herren, dachte Tuppence verdrossen. Aber ohne Tommy war die Wohnung leer und das Leben einsam. Lieber Himmel, was sollte sie denn nur mit sich anfangen?
Diese Frage war allerdings rein rhetorisch, denn Tuppence hatte schon die ersten Schritte getan und wusste genau, was sie mit sich anfangen wollte. Diesmal stand keine Abwehrarbeit oder Gegenspionage zur Debatte. Jede offizielle Tätigkeit war ausgeschlossen. Tuppence murmelte: »Ich bin die Privatdetektivin Prudence Beresford.«
Nachdem sie die Reste eines zusammengestoppelten Mittagessens fortgeräumt hatte, breitete sie auf dem Esstisch Fahrpläne, Reiseführer, Landkarten und alte Notizbücher aus, die sie aufgehoben hatte.
Irgendwann innerhalb der letzten drei Jahre (länger war es nicht her, das wusste sie genau) war sie mit der Eisenbahn gereist, hatte aus dem Zugfenster gesehen und das Haus bemerkt. Aber was für eine Reise war das gewesen?
Wie die meisten Leute reisten die Beresfords gewöhnlich mit dem Auto. Sie fuhren nur selten und in großen Abständen mit der Bahn.
Nach Schottland waren sie natürlich mit dem Zug gefahren, als sie ihre verheiratete Tochter Deborah besuchten. – Aber da
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