Lautlose Jagd
Ist er übergeschnappt, dass er ein paar Jagdbomber losschickt, um Nordkoreas Millionenheer vernichten zu lassen? Er hatte wissen müssen, dass es nicht ohne eigene Verluste abgehen würde - er konnte nicht so dämlich sein, dass er glaubte, sämtliche nordkoreanischen Raketen durch eine Art Blitzkrieg aus der Luft zerstören zu können. Falls er dachte, die Amerikaner würden ihm unter allen Umständen zur Hilfe kommen, hatte er sich diesmal gründlich verrechnet.
»Tapfere, aber vorsichtige Worte«, ließ Jewgenij Primakow, der russische Präsident und ehemalige KGB-Vorsitzende, durch seinen Dolmetscher erklären. »Sie plädieren für Frieden, konfrontieren uns aber zugleich mit kaum verhüllten Drohungen. Sie sind bereit, ein paar tausend Soldaten zu opfern, weil Sie hoffen, dadurch verhindern zu können, dass mehrere hunderttausend chinesische Soldaten in Marsch gesetzt werden, um Nordkorea beizustehen.«
»Wie war das gemeint, Herr Präsident?«, fragte Verteidigungsminister Chi scharf. »Wollten Sie damit sagen, dass China auf irgendeine Weise diesen Krieg unterstützt? Das tun wir nicht! Wir hatten keinerlei Informationen darüber, dass der Norden Atomwaffen einsetzen würde, und haben den Süden ganz sicher nicht dazu angestiftet, seine Jagdbomber Pjöngjang überfliegen zu lassen! Aber wenn die nordkoreanischen Genossen uns um Hilfe bitten, sind wir verpflichtet, ihnen alle Unterstützung zu gewähren, die wir für nötig halten.«
»Damit verurteilen Sie uns alle zu einem Atomkrieg!«, protestierte Ministerpräsident Nagai erregt. »Diese Reaktion muss eine gleichartige Reaktion der Amerikaner auslösen, die wiederum eine Reaktion der Russen auslöst, worauf die Amerikaner noch energischer reagieren... Wir müssen uns alle verpflichten, uns aus den Kämpfen auf der koreanischen Halbinsel herauszuhalten.
Dort darf niemand intervenieren.«
»Dem können wir nicht zustimmen«, wehrte Minister Chi ab.
»Ich werde meiner Regierung von diesem Gespräch berichten, aber Präsident Jiang empfehlen, den nordkoreanischen Genossen beizustehen und unsere Verträge über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung zu erfüllen. Bittet der Norden uns um Hilfe, werde ich empfehlen, ihm alle nötige Unterstützung zu gewähren - bis hin zu vollem militärischen Beistand.
Wir werden jeden Angriff des Südens auf Nordkorea als Angriff auf die Volksrepublik China betrachten.« Damit legte Chi auf.
»Verrückt, völlig verrückt«, sagte Präsident Primakows Dolmetscher. »Russland bleibt leider keine andere Wahl, als sich darauf vorzubereiten, der drohenden Gefahr zu begegnen, Mr. President. Wir haben keinen Kooperations- und Beistandspakt mit Nordkorea mehr, aber meine Regierung würde keine Einmischung einer Supermacht im Norden tolerieren. Eine chinesische Mobilmachung und die Entsendung von Bodentruppen nach Nordkorea würde uns nicht weiter berühren. Sollte China jedoch Flugzeuge oder Raketen in einer Weise einsetzen, die russische Stützpunkte oder Bürger gefährdet, oder falls die Vereinigten Staaten sich dazu entschließen sollten, China auf der koreanischen Halbinsel entgegenzutreten, müssten wir angemessen reagieren.«
»Und Japan würde einer russischen Mobilmachung irgendwelcher Art sicher nicht tatenlos zusehen«, stellte Ministerpräsident Nagai aufgebracht fest. »Unsere Streitkräfte mögen im Vergleich zu denen der Supermächte klein und unbedeutend sein, aber wir werden bis zum letzten Mann kämpfen, um unsere Heimat gegen die Gewalt zu verteidigen, die jetzt die koreanische Halbinsel verwüstet. Mit oder ohne Unterstützung Amerikas - wir werden uns wehren!«
»Ich bitte Sie beide, Ihren Zorn zu beherrschen und keine militärischen Maßnahmen zu ergreifen, bis wir Zeit gehabt haben, den Konflikt zwischen den beiden Koreas zu analysieren und...«
Aber diese Bitte kam zu spät: Primakow und Nagai hatten ebenfalls aufgelegt.
Präsident Martindale legte den Hörer auf, dann lehnte er sich mental und emotional erschöpft in seinen Sessel zurück. Er fand, er habe alle seine Karten auf den Tisch gelegt. Er hatte versprochen, sich nicht einzumischen. Aber die anderen hatten keine vergleichbaren Verpflichtungen abgegeben. Ganz im Gegenteil: Verteidigungsminister Chi Haotian hatte unverhohlen mit dem Einsatz der chinesischen Volksbefreiungsarmee zur Unterstützung Nordkoreas gedroht. Das würde wiederum eine Reaktion Russlands auslösen - genau wie im Jahr 1950, als Nordkorea im
Weitere Kostenlose Bücher