Lautlose Jagd
diesem Wetter kam man nur mühsam voran, aber es bot ausgezeichnete Deckung - und er wusste, dass die Südkoreaner weiter nach ihm fahndeten.
Tatsächlich war es nur eine Frage der Zeit, wann er geschnappt wurde, denn schließlich war die Zahl der Bahnstrecken in Nordkorea begrenzt. Die Hauptfrage lautete: Konnten sie ihre Rakete abschießen und sich dann in den Norden der Provinz Chagang Do - mindestens 150 Kilometer weit - absetzen, bevor die Kapitalisten sie aufspürten? Das war ein Wettrennen, das er nicht verlieren durfte.
Kong Hwan-li, der sich weiterhin stolz als Hauptmann der Artillerietruppen der Volksarmee betrachtete, machte Halt, um sich zu verstecken und zu rasten. Dann suchte er mit seinem Nachtsichtgerät, einer Kombination aus einem starken Infrarotscheinwerfer mit einer monokularen Nachtsichtbrille, die Bahnstrecke vor sich ab. Das war bei solchem Wetter schwierig - die Sichtweite betrug nur wenige Dutzend Meter -, deshalb suchte er das Gleis ab, marschierte zum nächsten Versteck weiter und suchte die Strecke erneut ab.
Das Hochgefühl des Erfolgs, das er empfunden hatte, war längst von diesem kalten, vom Wind gepeitschten Regen fortgeschwemmt worden. Vorgestern Nacht hatte er einen wichtigen Auftrag erfüllt: gemeinsam mit mehreren anderen Scud- und Nodong-Einheiten hatte er Südkorea angegriffen. Kong hatte sich mit einem noch nicht vermessenen Startplatz begnügen müssen, was die Treffsicherheit seiner Rakete beeinträchtigt hatte, aber der Start selbst hatte gut geklappt, und sie hatten sich absetzen können, bevor die Streifen der Kapitalisten sie entdeckten.
Jetzt, nach zwei höllischen Nächten auf der Flucht, war er zum nächsten Angriff bereit.
Dass die Situation nicht viel versprechend aussah, war schon zu erkennen, bevor Kong sein Ziel - ein Rangiergleis etwa 15 Kilometer südöstlich der Stadt Holch'on - erreichte, aber er musste es sich trotzdem ansehen. Das mit Wartungsbühnen, einem Kohlenbunker und sogar einem altmodischen Wasserkran für Dampfloks getarnte Rangiergleis war ein exakt vermessener Startort für nordkoreanische Raketen, die auf Gleisen bewegt werden konnten. Solche festgelegten Startpunkte beschleunigten und erleichterten den Abschuss einer ballistischen Rakete. Statt erst die geografischen Koordinaten, die Ortshöhe und die geografische Nordrichtung feststellen zu müssen, brauchte der Startoffizier nur die Nummer dieses Punkts einzutippen - den Rest erledigten die Computer. Standort und Ortshöhe waren bis auf einen halben Meter genau bestimmt, was größtmögliche Treffsicherheit garantierte. Das Rangiergleis lag zwischen hohen Betonwällen, die ein gewisses Maß an Sicherheit gewährten.
Das wussten die Südkoreaner offenbar auch, denn sie hatten den Startpunkt unbrauchbar gemacht. Sprengladungen hatten die beiden Zufahrtsgleise demoliert, und der ebenfalls gesprengte rechte Betonwall war aufs Gleis gestürzt. Das Hauptgleis war weiter befahrbar - schließlich brauchen die Kapitalisten es für ihre Invasion, sagte Kong sich -, aber der sorgfältig vermessene Startort war unbrauchbar. Ähnliche Bilder hatte er auf ihrem gefahrvollen Treck nach Norden, wo sie in China Zuflucht zu finden hofften, mehrfach gesehen - deshalb hatte er seine erste Rakete aus nicht genau vermessener Position abschießen müssen -, aber dieser Anblick war doppelt enttäuschend.
Trotzdem lag Kongs zweite Rakete voll funktionsfähig und einsatzbereit auf ihrer Abschussrampe. Die Nodong 1 trug einen für Osan bestimmten Kernsprengkopf mit 350 Kilotonnen Sprengkraft. Bei einer Detonation in Bodennähe würde sie das noch immer funktionierende Kontroll- und Lagezentrum Osan, das Herz der südkoreanischen Kriegsmaschinerie, mühelos zerstören. Kong hatte sogar noch eine dritte Rakete, die ebenfalls voll funktionsfähig und einsatzbereit war. Damit wollte er sich nach Kanggye zurückziehen, hoffentlich unter chinesischen Schutz, dort beim Wiederaufbau der Volksarmee in der Provinz Chagang Do mithelfen und den Kampf gegen die Invasoren aus dem Süden aufnehmen.
Kong weigerte sich weiterhin, das von den Kapitalisten geschaffene abscheuliche Gebilde als Vereinigte Republik Korea zu bezeichnen. Aus seiner Sicht war und blieb es Südkorea. Und die kommunistische Regierung in Pjöngjang war keineswegs durch einen Volksaufstand gestürzt worden. Die Kapitalisten hatten es verstanden, den größten Teil der Bevölkerung, auch des Militärs, durch eine Art Gehirnwäsche gegen seine Führer
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