Lavendel und Blütenstaub
wachem Blick sah sie Erwin und Aurelia an.
Verunsichert blickte Aurelia zu ihrem Vater. Dieser nickte und antwortete: "Ja, wir haben jemanden von der Hospizbewegung angerufen."
"Ach ja?" Anna lächelte. "Wen denn? Ich hab mir einmal ein paar Unterlagen von denen durchgesehen. Es klingt sehr interessant."
Erwin sah seine Mutter überrascht an. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich interessiert an diesem Thema zeigte. Er hatte damit gerechnet, sie überzeugen zu müssen, dass so eine Unterstützung in ihrer Situation das beste wäre.
"Eine gewisse Erni kommt morgen. Sie ist für dieses Gebiet zuständig und hat Zeit für dich."
"Erni", wiederholte Anna, lehnte sich in ihren Gartenstuhl zurück und faltete ihre Hände.
Erwin bemerkte überrascht, dass es ihr nichts auszumachen schien. Ob er auch so reagieren würde, wenn er erfahren würde, dass eine "Sterbebegleiterin" zu ihm käme?
Stella
Es hatte unglaublich gut getan, für ein paar Stunden wieder zu Hause zu sein. Stella hatte ein ausgiebiges Bad genommen, vor dem Fernseher ein Schokomüsli gegessen und ein wenig im Fotoband über Australien geblättert, den sie vor zwei Monaten gekauft hatte. Zuviel war in diesen Wochen geschehen, weshalb sie keine Zeit gehabt hatte, das Buch in Ruhe anzusehen.
Auf der Fahrt zurück zu Anna legte Stella kurz die Hand auf Jonathans Knie. "Danke!", sagte sie lächelnd.
Mehr Worte brauchte sie nicht zu sagen. Jonathan verstand auch so. "Schon okay, Mum." Er grinste.
Das Haus war, entgegen Stellas Erwartungen, in einem guten Zustand gewesen. Es war halbwegs sauber und der Kühlschrank mit frischen Lebensmitteln gefüllt. Er würde also nicht verhungern.
Selbst Jonathans Zimmer war aufgeräumt, wie Stella mit einem zufriedenen Lächeln festgestellt hatte. Vielleicht wurde der Junge doch noch erwachsen.
"Wäre es schlimm, wenn Onkel Erwin noch da wäre?", holte Jonathan seine Mutter aus ihren Gedanken.
Stella dachte kurz nach. "Nein", sagte sie schließlich. "Er hat das Recht, bei Oma sein zu dürfen." Sie lächelte besonnen. Heute konnte sie nichts aus der Bahn werfen. Ihre Kraftreserven waren aufgefüllt und sie konnte sich wieder erholt in die Schlacht werfen.
Die Stimmung in Annas Haus war harmonisch. Anna, Aurelia und Erwin saßen gemeinsam in der Küche beim Abendessen. Aurelia hatte eine kalte Jause mit Brot, Käse, Butter und dünn aufgeschnittenem Speck angerichtet.
Jonathan und Stella setzten sich dazu, wenn auch Stella ein wenig abseits von Erwin saß. Sie würdigten einander keines Blickes.
"Und, alles klar zu Hause? Steht dein Haus noch?" Aurelia grinste von Jonathan zu Stella.
"Überraschenderweise, ja", bemerkte Stella und warf Jonathan einen anerkennenden Blick zu.
"He, was habt ihr denn für ein Bild von mir?", warf er gespielt entrüstet ein.
Anna lachte. "Was man so hört, ist es ja nicht so abwegig, oder?" Sie zwinkerte ihm zu.
Er senkte den Blick. "Es wird nicht mehr vorkommen. Hab' ich ja schon gesagt und hoch und heilig versprochen."
"Ja, ja, reden wir in zehn Jahren noch einmal darüber!" Aurelia lachte und schob sich ein Stück Brot in den Mund.
Stella verfolgte das neckische Plaudern und fragte sich, wann sie zuletzt in dieser Runde zusammengesessen hatten. Sie konnte sich nicht erinnern. Erwin saß zwar schweigend an dem anderen Ende des Tisches, doch im Ganzen war es eine friedliche Stimmung.
Stella beobachtete Erwin. Er hatte Jeans und ein schwarzes T-Shirt an, was ein Kontrast zu seinem ansonsten makellosen Anzug war. Die dunklen Haare ergrauten an manchen Stellen bereits und Stella bemerkte, dass sie ihren Bruder schon lange nicht mehr so genau betrachtet hatte.
Als ob Erwin gespürt hätte, dass er beobachtet wurde, hob er den Kopf und blickte sie geradewegs an.
Stella zuckte zusammen. Für den Bruchteil einer Sekunde registrierte ihr Gehirn Erwins Aussehen und sandte Signale an ihre Nervenzellen. Eine Erinnerung tauchte auf. Der Blick, der Mund, die Haltung - Stella hatte das Gefühl, ihr Vater würde vor ihr sitzen. Seit wann war Erwin ihm so ähnlich? Ertappt sah sie weg.
"Möchte noch jemand Tee?", sagte sie schnell und stand auf, um den Wasserkocher aufzufüllen.
Anna
Wie Stella hatte an diesem Abend auch sie die Ähnlichkeit von Erwin zu Johann bemerkt. Anders als Stella konnte sie jedoch den Blick nicht von Erwin losreißen und starrte unentwegt ihren Sohn an.
Es waren Johanns Augen, die ruhig, aber zurückhaltend umherblickten. Johanns
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