Lavinia & Tobais 03 - Skandal um Mitternacht
begegnete.
Fünf glückliche Jahre hatte er mit Anne in diesem Haus verbracht, dann war sie nach der Geburt eines toten Kindes im Kindbett gestorben. Er und Anthony hatten ihren gemeinsamen Schmerz unter diesem Dach ertragen.
Anthony, der mit dreizehn seine geliebte Schwester verloren und praktisch verwaist zurückgeblieben war, hatte sich völlig allein auf der Welt gefühlt. Seine Mutter hatte er verloren, als er acht war, kurz nachdem sein Tunichtgut von Vater bei einem Streit am Kartentisch getötet worden war.
Anthony und Anne hatten daraufhin kurze Zeit bei ihren einzigen verbliebenen Angehörigen gelebt, bei Tante und Onkel, schrecklichen Leuten. Nach wenigen Monaten in deren düsterem Haus hatte ihre Tante sich der unerwünschten Belastung entledigt, indem sie Anne in eine kompromittierende Situation mit Tobias zwang, um ihre Nichte verheiraten und ihren Neffen in ein Waisenhaus verfrachten zu können.
Tobias hatte mit einem Blick erkannt, in welch verzweifelter Lage Anne und ihr kleiner Bruder steckten, und war sofort entschlossen, beide zu retten. An dem Tag, als er Anne und Anthony aus dem Haus ihrer Tante holte, hatte er nicht die Absicht gehabt, das Mädchen zu heiraten, war aber bald anderen Sinnes geworden. Anne war nicht nur schön, sie war lieb und sanft, jener Typ Frau, den Dichter als ätherisch beschrieben.
Die Gefühle, die sie in ihm weckte, waren zärtlich und beschützend gewesen. Er hatte sie von Anfang an mit der Behutsamkeit behandelt, die man einer zarten Blüte angedeihen ließ. Rückblickend wusste er, dass er bei ihr seine Leidenschaft gezügelt hatte, da er sich ständig der Notwendigkeit der Zurückhaltung bewusst war. An Auseinandersetzungen konnte er sich nicht erinnern. Nie hatte er seine Fassung bei ihr verloren.
Und doch hatte er sie vor dem traurigen Ende nicht bewahren können. Vielleicht war Anne zu gut für die Welt gewesen, wie Anthony oft bemerkt hatte.
Anne war nun in einer besseren Welt, und Tobias und Anthony blieb es überlassen, allein die harte irdische Realität zu bewältigen. Anthony hatte anfangs seine Ängste auf die einzige Art, die er kannte, bekämpft - mit Wut. Mit dem Trotz des Dreizehnjährigen hatte er gefragt, wann er seine Sachen packen und gehen sollte.
Du wirst sicher nicht wollen, dass ich hier herumhänge, da sie jetzt tot ist. Es war Anne, die du geliebt hast. Du hast mich ja nur genommen, weil sie sich von mir nicht trennen wollte. Ich habe verstanden. Ich falle nicht mehr in deine Verantwortung. Ich kann selbst auf mich aufpassen.
Tobias hatte sich mit aller Kraft bemüht, den verzweifelten, verängstigten Jungen zu beruhigen, während er selbst gegen starke Anwandlungen von Melancholie kämpfen musste. Nach Annes Beerdigung war er von seinen Schuldgefühlen fast verschlungen worden. Es war ihm nur allzu bewusst, dass seine Leidenschaft — wenn auch beherrscht und gezügelt — ihre Schwangerschaft bewirkt und schließlich ihren Tod herbeigeführt hatte. Es gab Tage, an denen er sich sagte, dass er sie niemals hätte heiraten dürfen. Er hatte kein Recht gehabt, sie den Gefahren und Risiken des Ehebettes auszusetzen. Für derart irdische Dinge war sie nicht geschaffen.
Er und Anthony hatten in diesem Haus lange ein trauriges Dasein gefristet, zwei verwundete Kreaturen, zusammen in einem dunklen Meer der Gefühle treibend. Doch das Leben hatte unerbittlich Forderungen gestellt. Anthony mit sich ziehend, hatte Tobias sich ihnen gestellt. Und gemeinsam hatten sie merkwürdigen Trost in der Alltagsroutine gefunden.
In einem Prozess, der so allmählich ablief, dass sie ihn nicht wahrnahmen, hatten er und Anthony schließlich ruhigere Gewässer erreicht. Und dieses Haus war Schauplatz ihres langen Kampfes gewesen.
Aber heute, während er in seinem Arbeitszimmer saß, umgeben von Büchern, Globus, Teleskop und Brandykaraffe, ertappte er sich bei dem Gedanken, dass er sich schon geraume Zeit darauf freute, die Füße vor Lavinias behaglichem Kamin auszustrecken.
Um halb elf a n jenem Abend saß er als einfacher Arbeiter verkleidet im Büro von Smiling Jack und trank den erstklassigen geschmuggelten Cognac seines Gastgebers. Der Lärm aus der Kneipe daneben wurde durch die dicke Mauer gedämpft.
Jack hatte das Gryphon zwei Jahre zuvor eröffnet, als er sich aus dem Schmuggelgeschäft zurückzog. Während des Krieges hatte er Informationen über die Schiffs-und Truppenbewegungen der Franzosen ebenso importiert wie illegalen Cognac. Tobias war
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