Lazyboy
sich wirklich darüber freuen würde.
»Das nenne ich mal eine kompromittierende Situation«, sage ich, als wir wieder auf dem Pflaster vor dem Laden stehen. Immerhin hat die Tür einwandfrei funktioniert. »Was hat sie eigentlich um diese Uhrzeit in einem Schuhgeschäft zu schaffen? Sie sollte arbeiten wie andere Leute auch.«
Frau Merbold blickt mich interessiert an. Sie hat mich nicht wieder an die Hand genommen.
»Tolle Idee, das mit dem Händchenhalten«, sage ich.
»Sie haben ihr nicht erzählt, dass Sie in psychotherapeutischer Behandlung sind?«
»Doch«, sage ich entrüstet, »natürlich, wofür halten Sie mich?«
»Ja, aber wo ist dann das Problem?«
»Na ja, ich habe ihr erzählt, dass Dr. Merbold ein 60-jähriger, dickbauchiger, weißhaariger Vollbartträger ist.«
»Tss«, macht sie.
»Na ja«, sage ich.
»Darüber werden wir sprechen müssen«, sagt sie mit mehr sorgen- als vorwurfsvollem Blick.
»Wollen wir noch eine Runde drehen?«, frage ich.
Sie zuckt die Schultern. »Wenn wir schon mal da sind. Ich habe jetzt wirklich ein bisschen ein schlechtes Gewissen.«
»Das brauchen Sie nicht zu haben. Das kriege ich schon wieder hin. Monika ist Kummer gewohnt.«
»Sie scheinen ja richtig stolz darauf zu sein.« Sie sagt es streng, aber gleichzeitig ergreift sie meine Hand.
»Das täuscht«, sage ich.
Wir gehen durch die Tür eines Geschäfts, in dem ausschließlich Produkte der Firma Lego verkauft werden. Wir treten durch den Luftstrom. Ich lächele dümmlich, ich spüre dieses Lächeln wie einen fremden Vogel im Gesicht. Es dauert einen Moment, bis ich feststelle, dass ich alleine bin.
Ich befinde mich in einem dämmrigen, lang gestreckten Flur, von dem etliche Türen abgehen. Etwas weiter eine Sitzgruppe mit altrosafarbenem Bezug. Es riecht nach Altenheim. Ich schaue meine Hand an. Von Frau Merbold keine Spur. Das grüne Seidenband flattert wie in Zeitlupe in Richtung des grauen Linoleums.
16
Ich trete aus dem Schatten der Tür und blicke mich um. Ich stehe in einer Wohnsiedlung. Kasten- und wabenartige Mietshäuser, eine Art moderner Pueblostil, würde ich als Architekturlaie so sagen, allerdings in Rot und nicht in Siennagelb wie bei den Indios. Dunkler, roter Backstein, große Fenster ohne Vorhänge mit grau lackierten Rahmen. Die Laternenmasten und die Masten am Bushaltestellenhäuschen sind blau. Die Autos haben gelbe Nummernschilder mit schwarzen Ziffern und Buchstaben darauf. Auf dem Gehweg kommt mir eine dicke schwarze Frau mit zwei Plastiktüten und einem um die Haare geschlungenen Tuch entgegen. Albert Heijn , lese ich auf den Plastiktüten. Ich mache Platz, um die Frau an die Eingangstür heranzulassen. »Dank u wel«, sagt sie mit kehliger Stimme und lächelt mich an.
»Graag«, nuschle ich und lächele schüchtern zurück, das Wort bedeutet gern , wenn ich mich richtig erinnere. Vielleicht heißt es aber auch etwas anderes, denn sie guckt mich an, als hätte ich sie nicht alle. Ich scheine in Holland gelandet zu sein. Toll, denke ich, ganz umsonst.
Dann schlendere ich los.
An einer Kreuzung folge ich dem Schild Richtung Centrum, Oost Haven steht da und auch Zoo und Deventer . Ich bin jetzt ziemlich überzeugt, mich in Amsterdam zu befinden. Einige Straßen weiter, die Gegend sieht allmählich pittoresk aus, immer noch grauroter Backstein, aber mittlerweile im Stil der Jahrhundertwende, mit riesigen Fensterflächen, die Fensterläden weiß, steige ich ohne Fahrschein in eine Tram, deren Ziel mit Centraal Station angegeben ist. Der Hauptbahnhof ist in meiner Lage immer ein gutes Ziel. Ich muss an einen ehemaligen Professor von mir denken, einen Altachtundsechziger mit dickem, bis in die Kniekehlen hängendem Schlabberstrickpulli. Er sagte einmal im Rahmen einer Vorlesung, er plane seine Reisen immer in Teilabschnitten, die man notfalls auch zu Fuß bewältigen könne, also etwa 30 Kilometer pro Tag, damit die Seele hinterherkomme. Die Seele reise nämlich zu Fuß. Dabei zwinkerte er uns zu. Als archaisches menschliches Organ sei sie auf Fußgängergeschwindigkeit geeicht. Unternehme man hingegen eine Flugreise, sei man für Tage ein seelenloser Zombie, weil die Seele so schnell nicht hinterherkomme. Jeder Mensch spüre das, wenn er ehrlich mit sich sei. Ich frage mich, was eigentlich mit meiner Seele ist und wo die gerade mit wunden Hacken herumhängt.
Ich überlege, wann ich das letzte Mal in Amsterdam gewesen bin, das muss locker zehn Jahre her sein, und was der
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