Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
viele Beziehungen heute Nacht rauschhaft beginnen oder zerstört, wie viele Kinder gezeugt und wie viele Ehen in wenigen Stunden zertrümmert werden?«
Sie ließ ihre Hand auf seinem Arm, während sie ihn auf einzelne Menschen im Gedränge aufmerksam machte. In diesem Augenblick wusste er, dass er seine Bestimmung gefunden hatte. Andere reisten nach Indien, um einem Guru zu folgen, er hatte hier, in dieser kleinen, engen, stickigen Weinstube inmitten trunkener und taumelnder Menschen seinen Leitstern gefunden. Sie glaubte an ihn. Er würde Sie nicht enttäuschen.
Fast meinte er, erneut ihre schmale, warme Hand auf seinem Arm zu spüren, ehe er sich aus seinem Tagtraum losriss.
Was wollte diese blöde Alte von ihm, die ihn mit ihrer lila Federboa am Hals kitzelte? Sie war rundlich, über dreißig und angetrunken, obwohl es erst halb vier am Nachmittag war. Seit ein paar Minuten hing sie an ihm wie eine Klette, blies ihm ihren alkoholgeschwängerten Atem ins Gesicht und quatschte ihm die Ohren voll, dass hier doch gar keine Stimmung wäre. Jetzt zog sie ihn am Arm:
»Komm schon, du langweilst dich doch auch. Lass uns in die Niederburgstube gehen, da steppt der Bär.«
Ja, warum ging sie nicht? Stattdessen rückte sie noch näher an ihn heran, er spürte ihren Schenkel an seinem Bein. Außerdem tätschelte sie ihm permanent den Arm. Er musste sie loswerden.
Er stand abrupt auf und stieß seine aufdringliche Nachbarin fast vom Barhocker. Er brauchte geschlagene zwei Minuten, um sich von der Theke zum Eingang durchzuschlagen, so dicht standen die Menschen. Als er endlich auf die Gasse trat und die frische, klare Luft atmete, fiel ihm die Tussi von hinten um den Hals. Hatte sie es doch tatsächlich geschafft, in seinem Schlepptau zu bleiben. Allerdings war sie in ihrem Zustand nicht mehr die Schnellste. Sie schwankte beträchtlich auf ihren fetten Beinen. Er wandte sich nach rechts und schlängelte sich durch eine Gruppe wandernder Sterne. Anschließend sprang er in einen Hauseingang und beobachtete durch das kleine Spionfenster, wie die Frau sich auf der Suche nach ihm mit ausgebreiteten Armen um die eigene Achse drehte. Als sie ihre Pirouette beendet hatte, blieb sie einen Moment wie erstarrt stehen, zuckte mit den Schultern und hakte sich bei einem Piraten ein, der mit steifem Schritt auf sie zugegangen war.
Er atmete auf. Die wäre er gerade noch rechtzeitig losgeworden. Es wurde Zeit, dass er sich auf die Suche machte. In gut zwei Stunden begann der Hemdglonkerumzug, spätestens dann sollte er sein Modell ausgesucht haben.
***
»Wie stellst du dir das vor! Der morgige Lokalteil ist längst fertig, voll mit Texten und Bildern der Fastnacht. Ich warte nur noch auf ein paar Fotos vom Hemdglonkerumzug, dann gehen die Seiten in die Produktion.«
Tobias Thal griff nach seiner Kaffeetasse und nahm einen großen Schluck. Dabei betrachtete er seinen Vater, der angespannt auf der Kante des Besucherstuhls vor seinem Schreibtisch saß. Er sah müde aus, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Tobias Thal hoffte nach dem Anruf aus dem Präsidium, mit seinem Vater gehe es endlich bergauf. Mehrfach hatte er erfolglos versucht, ihn zur Arbeit zu bewegen. Er hatte sich so in seine Erinnerungen vergraben, dass er keinen Weg zurück in seinen Alltag fand. Tobias war klar, dass zwischen seinem Vater und Leah Braasch eine Beziehung bestand, die sich normalen Maßstäben entzog. Er war zwar erst zehn Jahre, als die beiden sich zum ersten Mal begegneten. Trotzdem wusste er sofort, dass diese Frau in Zukunft mit ihnen leben würde. Normalerweise erzählte sein Vater kaum von seiner Arbeit, aber an diesem heißen Sommerabend vor zwanzig Jahren berichtete er ihm auf der Kante seines Bettes sitzend bis in kleine Details von seinem Besuch im Atelier einer jungen Malerin im Essener Norden. Er beschrieb ihr Aussehen, ihre Kleidung, ihre Bewegungen. Nie zuvor hatte der Junge erlebt, dass sein Vater so enthusiastisch von einem anderen Menschen sprach. Diese Leah Braasch musste etwas Besonderes sein – und bald sollte er sich davon selbst überzeugen.
Damals lebte er mit seinem Vater in einer kleinen Etagenwohnung. Vier Jahre zuvor hatten sich die Eltern getrennt, und seine Mutter Marion war zu ihrem Liebhaber nach Spanien gezogen. Des iberischen Herzensbrechers hatte sie sich kurz darauf entledigt, lebte aber heute noch in Sevilla.
Tobias wusste, dass Leahs Tod das größte Unglück war, das seinem Vater im Leben
Weitere Kostenlose Bücher