Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
Feindseligkeit. Dr. Miez gehörte zu den Ärztinnen, die glaubten, Misshandlungsopfer müssten zunächst vor jedem Kontakt mit Männern geschützt werden. Deshalb überließ er Bettina Berg das Gespräch.
»Danke, dass Sie uns gleich angerufen haben, Frau Doktor. Wie geht es Frau Kleiber heute Morgen?«
Die Ärztin überlegte einen Moment, als wäre sie sich der Antwort nicht sicher, ehe sie mit einer überraschend weichen, warmen Stimme sprach.
»Normalerweise würde ich jetzt sagen, den Umständen entsprechend gut. Aber die Umstände sind so grausam, dass es ihr nicht gut gehen kann. Weder vom medizinischen noch vom menschlichen Standpunkt aus.«
»Ist sie bei Bewusstsein.«
»Im Prinzip schon. Wir haben lange gebraucht, das Gift aus ihrem Körper zu bringen. Die Dosis hätte sie umbringen können, aber zum Glück ist sie jung und gesund. Sie ist aber noch sehr müde und schläft viel. Das ist auch das Beste, was sie im Moment tun kann.«
Dr. Miez schloss die Augen, als wollte auch sie wenigstens für einen kurzen Moment schlafen. Ohne die Augen zu öffnen, sagte sie:
»Ich hätte Sie nicht anrufen sollen. Es ist viel zu früh für eine Vernehmung.«
Weil Bettina nicht sofort antwortete, ergriff Thal das Wort.
»Frau Dr. Miez, wir wollen Frau Kleiber nicht vernehmen. Im Grund genommen glauben wir, den Ablauf des Überfalls aufgrund der Untersuchungen des Gerichtsmediziners zu kennen. Uns interessiert nur, ob Ihre Patientin den Täter identifizieren kann.«
Die Ärztin öffnete die Augen und blickte Thal direkt an.
»Sie wissen, dass Gamma-Hydroxy-Buttersäure in den meisten Fällen mit einer anterograden Amnesie einhergeht und das Opfer sich an keinerlei Einzelheiten erinnern kann?«
»Das hat uns der Rechtsmediziner gesagt. Andererseits hat der Täter Frau Kleiber am Anfang eine geringe Dosis des Zeugs verabreicht.«
Die Ärztin schloss erneut die Augen.
»Ich weiß nicht ...«
Bettina Berg zog das Foto von Viktor Speer aus der Tasche und setzte sich neben Dr. Miez auf die Liege.
»Sehen Sie, Frau Doktor, es könnte sein, dass dieser Mann hier Frau Kleiber gestern überfallen und misshandelt hat. So wie er es zuvor mit vier anderen Frauen getan hat. Wir sind sicher, dass er sich heute sein letztes Opfer suchen wird, um es seinem teuflischen und kranken Plan folgend zu töten. Wir sollten alles tun, das zu verhindern.«
Dr. Annemarie Miez schaute sich das Foto eine geschlagene Minute schweigend an, ehe sie aufstand.
»Kommen Sie. Aber nur diese eine Frage. Und nur in meinem Beisein.«
Bettina Berg und Alexander Thal folgten der Ärztin. Auf dem Flur steuerte eine Krankenschwester direkt auf Dr. Miez zu. Die Ärztin wehrte ihre Frage mit einer müden Handbewegung ab. Nach wenigen Schritten erreichten sie das Krankenzimmer von Mandy Kleiber. Die Ärztin klopfte kaum vernehmbar an und öffnete geräuschlos die Tür.
Die Frau, die in dem Bett mit aufgestelltem Kopfteil mehr saß als lag, hatte kaum Ähnlichkeit mit dem Opfer auf den Fotos. Ungeschminkt hätte Thal das Gesicht fast nicht erkannt, was nicht an dem kleinen Schlauch lag, der unter ihrer Nase entlanglief. Mandy Kleiber blickte die drei Menschen, die an ihr Bett traten, aus glanzlosen, tief in den Höhlen liegenden Augen an. Ihre Wangen waren eingefallen, zwischen den Augenbrauen verlief eine tiefe Falte. Die Ärztin schob den Ständer mit der Infusionsflasche und den Nachttisch zur Seite, auf dem neben einer Nierenschale ein volles Glas Wasser stand. Sie zog den einzigen Besucherstuhl neben das Bett und bedeutete Bettina Berg, darauf Platz zu nehmen. Anschließend sprach sie die Patientin leise und ruhig an.
»Hallo, Frau Kleiber. Wie geht es Ihnen?«
Mandy Kleiber schloss die Augen und deutete ein Nicken an.
Die Ärztin trat hinter Bettina Berg und legte ihr beide Hände auf die Schultern.
»Das ist Frau Berg von der Polizei. Haben Sie keine Angst, Frau Kleiber. Sie wird Ihnen nur eine Frage stellen.«
Die Ärztin ging langsam rückwärts und zog Thal mit einem festen Griff in die Ecke neben der Tür.
»Guten Morgen, Frau Kleiber«, begann Bettina Berg. Sie wartete, bis Mandy Kleiber ihren Kopf zur Seite gedreht hatte.
»Frau Doktor Miez hat mich ja schon vorgestellt. Es tut uns allen entsetzlich leid, was mit Ihnen geschehen ist. Wir haben tatsächlich nur eine Frage: Können Sie sich an den Mann erinnern, der Ihnen das angetan hat?«
Mandy Kleiber atmete tief und deutlich hörbar ein. Als sie sprach, war ihre Stimme heiser und
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