Leander und die Stille der Koje (German Edition)
Geschirr sofort gespült und eingeräumt. Weder auf dem Schreibtisch noch auf dem Wohnzimmer- oder Küchentisch lag etwas, das wie ein Abschiedsbrief aussah.
Also gingen Lena und Dieter Bennings hintereinander die schmale Treppe ins Obergeschoss hinauf. Hier lagen, wie in fast allen Häusern üblich, das Badezimmer, ein Schlafzimmer und zwei Kinderzimmer. Einzig das Bad und das Schlafzimmer machten einen bewohnten Eindruck. Im Schlafraum blickte Lena sich gründlich um. Irgendwie wirkte es hier so, als sei der Besitzer des Hauses überstürzt aufgebrochen: Das Bett war unordentlich, Kleidungsstücke lagen auf dem Boden, vermutlich das T-Shirt und die Boxershorts, die Albertsen in der letzten Nacht getragen hatte. Dazwischen lag auch ein Handy. Dieter Bennings hob es auf und kontrollierte die Anrufliste.
»Wiese hat die Wahrheit gesagt«, erklärte er. »Hier sind insgesamt sieben eingehende Anrufe mit dem Vermerk ›Günter‹, der letzte etwa eine Viertelstunde, bevor Wiese auf dem Hof aufgetaucht ist.«
Ein Windstoß ließ das Fenster klappern. Lena ging hinüber, um es zu schließen, und als sie dabei einen Blick in den Hof warf, blieb ihr ein Schrei in der Kehle stecken. Sofort war Dieter Bennings an ihrer Seite und blickte ebenfalls hinaus.
In riesigen weißen Lettern hatte irgendjemand mit einem breiten Pinsel auf das gegenüber liegende Scheunentor das Wort »Mörder« gemalt, von dem Farbtropfen nach unten gelaufen waren. Widerlich verzerrt stand es da und prangerte offensichtlich den Arzt und Menschenfreund, den Tierschützer Melf Albertsen, an. Aber gerade auf den Tierschützer musste das zweite Requisit dieser schaurigen Inszenierung noch dramatischer gewirkt haben. Mitten durch die weißen Farbschlieren und die anklagenden Buchstaben liefen rote Farbstreifen: Blut. Und über dem Wort »Mörder« steckte dessen Quelle im Holz des Scheunentores: Da hingen zwei Störche, angenagelt wie gekreuzigt. Durch den Hals und die zu voller Spannweite ausgezogenen Flügel hatte jemand sie ans Scheunentor genagelt. Aber das war nicht alles: Mit einem langen Schlachtermesser hatte er den Tieren den Bauch aufgeschlitzt, so dass die Eingeweide in langen Strängen herunterhingen. Die meisten Innereien lagen als blutige Häufchen auf dem Boden vor dem Tor. Die Köpfe der stattlichen Tiere mit den langen roten Schnäbeln hingen an den schlanken Hälsen schlaff nach vorne herab. Das Messer steckte wie eine Warnung zwischen den Kadavern im Holz.
Lena wich zurück und schüttelte den Kopf. Sie hatte in ihren langen Dienstjahren schon viele Leichen gesehen, die übel zugerichtet waren, einige auch deutlich scheußlicher als die toten Störche da draußen. Dennoch machte die Inszenierung Eindruck auf die Kriminalhauptkommissarin, weil Tiere in ihrer Hilflosigkeit den Perversionen kranker Menschenhirne wie Kinder ausgeliefert waren.
»Auf jeden Fall wissen wir jetzt, was Melf Albertsen so aus der Bahn geworfen hat. Sieht so aus, als könnte es tatsächlich Selbstmord sein«, erklärte Dieter Bennings, dessen heiserer Stimme Lena anhörte, dass auch er von der Sache nicht unbeeindruckt war.
Er griff nach seinem Handy, wählte Woykes Nummer, wartete einen Moment und sagte dann: »Paul? Dieter hier. Es tut mir leid, aber du musst nach Hedehusum auf das Grundstück von Melf Albertsen kommen. Und bring jemanden mit, der sich mit Voodoo auskennt. … Bitte? … Nein, das Letzte war nicht ernst gemeint, aber ein Scherz war es leider auch nicht. … Ja, bis gleich.« Er unterbrach die Verbindung und stellte sich neben Lena wieder ans Fenster.
»Wieso ›Mörder‹?«, fragte Lena plötzlich.
»Bitte?«
»Wieso steht da ›Mörder‹ an der Scheune?«
»Rickmers«, überlegte Dieter Bennings. »Bei all den Anschlägen hier auf der Insel hat es zum Glück bisher erst einen Mord gegeben. Es kann nur dieser Mord an Rickmers gemeint sein.«
»Albertsen soll Rickmers getötet haben?«, zweifelte Lena. »Den hatten wir doch längst ausgeschlossen.«
»Nur weil jemand das an seine Scheune geschmiert hat, muss es ja nicht stimmen. Du kennst die Pogromstimmung, die gegen die Umweltschützer herrscht.«
»Also Selbstmord aus Verzweiflung«, versuchte Lena eine Erklärung. »Familie kaputt, Arztpraxis so gut wie ruiniert und sicher hoch verschuldet, und alles für den Naturschutz. Dann die Jagd auf ihn und Wiese. Jeden Moment muss er mit Angriffen aus dem Hinterhalt rechnen. Albertsen steht vor einem verpfuschten Leben. Und du hast ja
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