Leander und die Stille der Koje (German Edition)
mich gefragt, ob ich ihn nicht bei seinem neuen Projekt unterstützen will. Er plant eine Buchreihe über die Kulturgeschichte der Nordfriesischen Inseln. Die Bücher, die man bislang kaufen kann, sparen die kritischen Phasen der Geschichte überwiegend aus und sind im Übrigen relativ oberflächlich, und genau da sieht er eine Marktlücke.«
»Was sollst du denn dabei machen?«, wunderte sich Lena. »Willst du unter die Heimatforscher gehen?«
»Warum nicht? Recherchieren habe ich schließlich von der Pike auf gelernt. Und was spricht dagegen, dass ich die Arbeit meines Vaters auf dem Gebiet fortsetze? Schließlich ist es sicher auch im Sinne meines Großvaters, wenn die Lücken geschlossen werden, die sein Leben bestimmt haben.«
»Ich ahne Schreckliches«, stöhnte Lena. »Dann werde ich dich wohl nicht einmal mehr in meinen spärlichen Urlaubswochen zu Gesicht bekommen.«
»Das werde ich zu verhindern wissen«, versprach Leander lachend. »Jedenfalls werden wir heute den ganzen Tag lang radeln. Es gibt da einige kulturgeschichtlich interessante Stellen auf der Insel, die ich dir gerne zeigen möchte. Und morgen machen wir eine Wattwanderung nach Amrum. Auf halber Strecke liegt ein englisches Wrack im Sand des Wattbodens.«
»Was habe ich gesagt?«, rief Lena protestierend und warf mit einem Brötchenkrümel nach ihrem Freund. »Es geht schon los!«
Heinz Baginski stand an der Reling der Rungholt und schaute zu, wie am Nebenanleger ein Leichenwagen von der Nordfriesland fuhr. Selbst im Paradies wurde gestorben, das hatte er in den letzten zwei Wochen leidvoll erfahren müssen.
Die Rungholt legte nun ab und fuhr rückwärts aus dem Wyker Hafen, stoppte dann mit dröhnenden Motoren und setzte ihre Fahrt vorwärts durch die Fahrrinne entlang des Strandes an Steuerbord fort. An Backbord tauchten die Warften der Hallig Langeneß auf. Zwei Krabbenkutter kreuzten langsam mit gesenkten Bodennetzen im flachen Wasser vor den bebauten Erdhügeln auf und ab, jeweils umgeben von einer Wolke aus Möwen, die auf den Beifang lauerten.
Wehmütig blickte Heinz Baginski zurück auf den kleinen Leuchtturm am Ohlhörn und die Strandkörbe vor der Wyker Promenade. Was hatte er in der kurzen Zeit auf dieser Insel nicht alles erlebt! Da war er hierher gekommen, um sein krankes Herz und sein Burnout zu kurieren, und dann war er über Leichen gestolpert, wo immer er hingetreten war. Irgendwie zog er das Unglück geradezu an. Wenn er seinem Arzt in Bottrop davon berichtete, würde der ihn nie wieder krankschreiben und zur Kur schicken. Da war das Leben in der Arbeitsagentur geradezu gemütlich im Vergleich zu diesem Urlaub, selbst wenn er an den bevorstehenden ›Winterbau‹ dachte. Jedenfalls waren seine Kollegen verglichen mit den Inselleichen dann doch noch relativ lebendig.
Er setzte sich auf eine der Bänke, verschränkte seine Arme vor der Brust und lehnte sich zurück, um mit geschlossenen Augen die Wärme der Sonnenstrahlen zu genießen, während um ihn herum das Geschrei der Möwen und das Brummen der Schiffsdiesel die Luft erfüllten.
Einen Moment lang überlegte Heinz Baginski, ob er nicht seine Kamera auspacken und ein paar Fotos von den Vögeln über sich schießen sollte. Weiße Möwen vor blauem Himmel, das sah doch phantastisch aus. Aber diesen Gedanken verwarf er schnell wieder, denn schließlich hatte er all die schrecklichen Dinge auf Föhr nur wegen seiner Begeisterung für die Naturfotografie erlebt! Niemals wäre er nachts in der Boldixumer Vogelkoje gewesen, wenn er die Krickenten nicht hätte fotografieren wollen. Und in der Scheune des Naturerlebnishofes wäre er auch nicht auf den erhängten Arzt gestoßen, wenn er zuvor nicht im Unterstand Limikolen fotografiert hätte. Niemals wieder würde er eine Kamera anfassen – jedenfalls nicht, um Tiere zu fotografieren. Das stand für ihn fest wie ein Felsen im Meer.
Ein Felsen im Meer. Bilder von sonnigen Stränden und steilen Klippen tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Rote Felsen. Sandsteinfelsen. Und Vögel! Schwärme von Vögeln! Baßtölpel und Lummen. Nester in Felsnischen. Die Lange Anna. Helgoland – genau, das war Helgoland! Heinz Baginski war wie elektrisiert ob dieser Eingebung. Seinen nächsten Urlaub würde er auf Helgoland verbringen, im nächsten Juni, zum Lummensprung. Das hatte er immer schon vorgehabt. Und fotografieren würde er da!
Schlagartig war der Vorsatz, den er noch vor wenigen Minuten gefasst hatte, in seinem Hirn wie
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