Leander und die Stille der Koje (German Edition)
Jäger immer zum Abschuss freigegeben haben. Gänse sind gerade während der Aussaat die natürlichen Feinde der Landwirte. Früher hat man Vogelscheuchen aufgestellt, heute nimmt man Knallgeräte und führt Vergrämungsabschüsse durch. Aus der Sicht der Bauern ist das verständlich, aber wir können es natürlich nicht zulassen, weil es unsere Arbeit während des ganzen Jahres zunichte macht. Und die Jäger haben ohnehin ein eigenes Verständnis vom Umgang mit der Natur. Sie reklamieren quasi ein Naturrecht für sich, obwohl die Nahrungsquellen heute auf andere Art gesichert sind. Gleichzeitig muss der Wildbestand reguliert werden, und wer sonst soll das machen, wenn es keine natürlichen Feinde mehr gibt. Ganz abgesehen davon, dass die Jagd irgendwie in den Urzeitinstinkten des Menschen verankert ist. Wir sind halt immer noch zum Teil Neandertaler.« Albertsen grinste leicht, als er das sagte, was den verkniffenen Eindruck, den er zuvor gemacht hatte, etwas löste.
»Das klingt von Ihrer Seite her doch sehr verständnisvoll. Wo genau ist denn eigentlich Ihr Problem?«, zeigte sich Lena etwas irritiert.
»Ich bin Arzt«, erklärte Albertsen. »Mit meiner Praxis bin ich darauf angewiesen, dass die Patienten zu mir kommen. Und dafür brauche ich eine gute Reputation. Angesichts des Streites, der allmählich eskaliert, leidet aber genau diese Reputation momentan sehr. Die Dörfer hier sind trotz des Tourismus und der Kurbetriebe immer noch sehr bäuerlich strukturiert. Klar, dass jeder, der sich mit den Landwirten anlegt, boykottiert wird. Da finde ich morgens auch schon mal eine eingeworfene Fensterscheibe in der Praxis vor. Mit den Drohbriefen, die ich bereits erhalten habe, könnte ich ganze Wände tapezieren.«
»Können Sie uns diese Briefe zeigen?«, zweifelte Bennings.
»Nein«, gestand Albertsen. »Ich habe sie bisher immer weggeworfen. Die Föhrer Bauern bellen gerne laut, aber sie beißen nicht, wie man so schön sagt.«
»Wovon leben Sie denn, wenn Ihre Praxis eigentlich nichts abwirft?«, fragte Lena.
»Ich arbeite nebenbei in der Kurklinik, sonst hätte ich die Praxis längst schließen müssen. Von den paar Kur-Urlaubern, die nicht in den Kliniken untergebracht sind und nur zu mir kommen, um sich Anwendungen verschreiben zu lassen, kann ich nicht leben. Das ist Utersum hier und nicht Wyk.«
»Sie sagen, der Streit eskaliere im Moment. Woran machen Sie das fest?«, fragte Lena.
»Da müssen Sie nur die Zeitung lesen. Die Bauern fahren inzwischen harte Geschütze auf, um Elmeere daran zu hindern, weiteres Land zu kaufen – Kein Bauernland für Elmeere tragen sogar schon die Schulkinder auf ihren T-Shirts. Und Günter Wiese lässt auf der anderen Seite keine Gelegenheit aus, die Jäger und die Landwirte anzuzeigen. Von Kommunikation zwischen den beiden Parteien kann da schon lange keine Rede mehr sein.«
»Das hört sich an, als wären Sie und Wiese sich nicht einig«, stellte Bennings fest.
»Doch, im Grunde sind wir das; zumindest, was die Ziele unserer Arbeit angeht. Aber wir haben höchst unterschiedliche Auffassungen darüber, ob diese Ziele mit allen Mitteln und um jeden Preis durchgesetzt werden müssen. Für mich ist das hier kein ideologischer Kampf, sondern ein klassischer Konflikt: Wenn sich Ökonomie und Ökologie so unvereinbar gegenüberstehen, werden beide verlieren. Ich stehe eher für eine Kompromisslinie. Beide Seiten haben doch ihre Existenzberechtigung. Außerdem kann man leicht sehen, dass sich zum Beispiel auch kleine Bauernhöfe wieder rentieren, wenn sie biologisch-dynamisch arbeiten. Für gesunde Produkte besteht ein Markt, und der wird gerade in diesen Zeiten vergifteter Futter- und Nahrungsmittel immer größer. Das heißt, die Landwirte auf Föhr müssten eigentlich ein eigenes Interesse an einem starken Naturschutz haben; sie müssten selbst Teil davon sein, zumal unsere Insel das passende Image dazu hat. Und die Naturschützer haben nur in den Zeiten Zulauf, in denen es den Menschen gut geht. So absurd das klingt angesichts der existenziellen Fragen, die der Umweltschutz berührt, aber in ökonomisch schwierigen Zeiten haben die Menschen andere Sorgen als die Zahl der Ringelgänse. Sie sehen, wir haben ein Interesse daran, dass beide Seiten stark sind – und einig.«
»Ist das nicht ein Widerspruch?«, wunderte sich Bennings. »Auch wenn Biobauern momentan Konjunktur haben, heißt das doch nicht, dass die Nahrungsmittelindustrie insgesamt ein Interesse an
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