Leb wohl, Schlaraffenland: Die Kunst des Weglassens (German Edition)
dem Auto habe ich früher von zu Hause bis nach Wien in der Regel 40 oder 50 Minuten benötigt, je nach Lage des Ziels in der Stadt. Jetzt, mit Bahn und U-Bahn, dauert es um eine Viertelstunde länger. Dafür kann ich aber die Zeit während der Fahrt nutzen. Ich lese zum Beispiel ein Buch, was ja während des Autofahrens nicht so leicht möglich ist. Manchmal arbeite ich mit dem Laptop. Die Bahnfahrt ist also eingroßer Zeitgewinn. Man glaubt kaum, welche abgelegenen Orte man auch ohne Auto erreichen kann. Man muss sich bloß an gewisse Vorgaben halten, also an die Fahrpläne.
Manche Fahrten werden deutlich umständlicher, zum Beispiel die Strecke nach Tulln in Niederösterreich, das nicht weit von meinem Wohnort entfernt liegt. Im öffentlichen Verkehr muss ich zuerst bis nach Wien, dort in die Schnellbahn umsteigen und nach Tulln fahren. Es wird also manchmal zur „Challenge“, Orte zu erreichen, die eigentlich relativ nahegelegen sind. Je größer aber die Distanz, desto plausibler und effektiver die Bahnfahrt. In den Westen des Landes zum Beispiel, nach Vorarlberg oder auch nur nach Linz oder Salzburg, gelangt man auf keine Weise schneller und komfortabler als auf Schienen. Ich empfinde es aber auch als spannend, wenn dann plötzlich die Fahrt nach Tulln zu einer kleinen Reise wird. Ich fahre dann nicht nach Tulln, sondern ich reise.
Das Reisen haben wir ohnehin verlernt. Wir wechseln nur mehr die Orte. Wenn ich in ein Flugzeug einsteige, komme ich einige Stunden später in einer anderen Welt an, womöglich in einer anderen Kultur. Aber diese Veränderungen unterwegs würde ich nicht mitbekommen. Manche Indianer – die nordamerikanischen Ureinwohner – sagen ja, dass man immer wieder stehenbleiben und innehalten muss, wenn man sich in hoher Geschwindigkeit bewegt, damit die Seele nachreisen kann. Vielleicht steckt da ein Körnchen Wahrheit drin. Ich genieße es, wieder zu reisen, anstatt bloß irgendwohin zu fahren.
Clemens G. Arvay: Im Sommer 2012 begab ich mich auf eine große Reise, die drei Monate dauerte und mich durch mehrere Länder Europas führte. Ich war für mein Buch „Friss oder stirb – Wie wir den Machthunger der Lebensmittelkonzerne brechen und uns besser ernähren können“ auf Recherche unterwegs. Es war einegroße Bereicherung für mich, den Wandel der Landschaft mitzuerleben. Ich fuhr im „Zickzack“ quer durch Deutschland, machte Zwischenstopp an der Ostsee und später an der Nordsee, von wo ich bis nach Großbritannien gelangte. Der entfernteste Punkt, den ich erreichte, lag an der wilden Westküste von Wales. Es war ein schönes Erlebnis, zu beobachten, wie sich die Landschaft in Richtung Norden änderte, wie sie nach Westen hin immer maritimer wurde. Wäre ich ins Flugzeug eingestiegen – du sagtest es bereits –, hätte ich nichts von alledem wahrgenommen.
Roland Düringer: Während meiner Tourneen war ich 30 Jahre lang in ganz Österreich unterwegs. Früher konnte ich, wenn ich von der Autobahn abfuhr, anhand der Häuser oder der Infrastruktur noch erkennen, in welchem Bundesland ich mich befand. Heutzutage sieht es im Wesentlichen überall gleich aus: Ich gelange von der Autobahn zu einem Kreisverkehr und dort befindet sich der erste Baumarkt. Dann kommt meist ein billa, hofer 7 , spar oder ein anderer Supermarkt, ein Schuh-Discounter, ein Kleider-Discounter und eine Tankstelle. Das ist überall gleich, ob ich nun ganz im Osten des Landes abfahre oder im Westen. In Deutschland wird es vermutlich genauso sein, nur dass die Geschäfte dort anders heißen. Da nennen sich die Supermärkte dann eben rewe, edeka, aldi, norma, und so weiter.
Auch daran erkennt man, was das Auto eigentlich angerichtet hat. Kein Mensch würde ohne ein Auto in einen Großmarkt fahren oder in ein Einkaufszentrum. Das würde überhaupt keinen Sinn ergeben. In die Wiener Shopping City Süd ohne Auto? Mit zwei kleinen Taschen in der Hand? Welchen Sinn ergibt das? Du musst ja etwas einkaufen, etwas ins Auto laden können.
Was früher ein Bahnhof war, ist jetzt ebenfalls eine Shoppingmall. Der Zug fährt bis ins Einkaufszentrum und dort sind wieder diegleichen Geschäfte wie überall. Du steigst in Linz am Bahnhof aus und kannst ins gleiche Geschäft hineingehen, in dem du vielleicht beim Einsteigen am Wiener Westbahnhof schon warst. Man könnte auch sagen, es seien Einkaufszentren mit angeschlossenen Bahnhöfen anstatt umgekehrt.
Ein für mich wichtiges, um nicht zu sagen unersetzliches
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