Leben Ist Jetzt
„sehen,
erblicken,erkennen“ bedeutet. Weise ist also der, der viel gesehen hat, oder einer, der tiefer blickt, der den Dingen auf den Grund
sieht. Der Weise hat eine eigene Weise entwickelt, die Dinge zu sehen und das Wesentliche zu erkennen.
Schon Cicero weiß: Große Dinge werden nicht durch Muskelkraft, Geschwindigkeit oder physische Leistungsfähigkeit erreicht, sondern
durch Nachdenken, Charakterstärke und Urteilskraft. Der alte Mensch hat weniger Muskelkraft als der junge, er wird langsamer und seine physische
Leistungskraft lässt nach. Aber er hat andere Fähigkeiten. Er denkt ruhiger nach. Er ist in seinem Charakter gefestigt und er hat durch lange Erfahrung
eine gute Urteilskraft entwickelt. So vermag er manchmal mehr zu leisten als junge Menschen, nicht weil er mehr arbeitet, sondern weil er seine besonderen
Fähigkeiten einsetzt, weil er mit mehr Klugheit und Weisheit an die Sachen herangeht.
Viele Firmen meinen, sie müssten Angestellte, die über 55 sind, vorzeitig entlassen, weil sie zu teuer sind. Doch damit vergeuden sie
ein hohes Potential, das in den alten Mitarbeitern steckt. Sie können manches nicht mehr so schnell tun wie früher. Manche Probleme erfassen sie nicht
sofort. Doch dafür haben sie andere Fähigkeiten entwickelt. Sie sehen das Wesentliche, auf das es ankommt. Sie haben größere Erfahrung und können eine
Einzeltatsache besser indas Ganze einordnen. Sie sehen die Zusammenhänge klarer. Diese Fähigkeiten alter Menschen sollte die
Gesellschaft nicht vernachlässigen. Natürlich gibt es auch alte Männer, die ihre Aufgabe und ihren Posten nicht loslassen können, weil sie nicht gelernt
haben, etwas anderes zu tun als bisher. In der Kirche sind es vor allem alte Männer, die das Sagen haben. Das birgt auch Gefahren in sich. Aber immerhin
traut die Kirche einem alten Mann zu, ihr als Papst vorzustehen. Und oft entwickeln diese alten Männer erstaunliche Fähigkeiten. Papst Johannes XXIII, den
seine Kritiker für einen harmlosen alten und gutmütigen Mann hielten, hat die Kirche und die Welt verändert, indem er ein Konzil einberief und zum
„aggiornamento“ aufrief. Der alte Mann hat die Fenster der Kirche weit aufgerissen und frische Luft hineingelassen. Er hatte nichts zu verlieren. Er
musste nicht taktieren. Alte Menschen sind oft freier, das zu tun, was sie als richtig erkannt haben. Und sie haben oft ein besseres Gespür für das, was
dran ist.
In den achtziger Jahren sprach der katholische Publizist Walter Dirks von den Zornigen Alten, die lauter als junge Theologen den Ruf
nach Erneuerung von Gesellschaft und Kirche oder den Ruf nach Gerechtigkeit und Frieden erhoben. Zu ihnen gehörten neben Walter Dirks auch die Theologen
Karl Rahner und Heinrich Fries. Sie haben auch als alte Männer ohne Angst ihre Stimme erhoben für eine erneuerteKirche und für
gerechtere Strukturen in der Welt. Sie hatten nichts zu verlieren. Auch die Dichtung hat die besonderen Fähigkeiten alter Menschen herausgestellt. Bert
Brecht hat in seiner Kalendergeschichte über „die unwürdige Greisin“ eine alte Frau beschrieben, die die von der Gesellschaft vorgeschriebenen Normen
hinter sich lässt und mit dem Tod ihres Mannes ihr Leben schlagartig ändert, ihr Leben genießt, indem sie Kinos und Gasthöfe besucht und neue Freunde
findet. Für ein freies und selbstbestimmtes Leben, so die Botschaft Brechts, ist es nie zu spät. Martin Walser spricht in einem ähnlichen Sinn vom
„Altersnarren“, also dem Menschen, der sich ohne Rücksicht auf Konventionen und unbeeindruckt von den Mächtigen die Freiheit nimmt und die Wahrheit beim
Namen nennt. Vielleicht hat Mark Twain am besten zusammengefasst, was all diese Beispiele gemeinsam haben, wenn er meinte: „Die Alten sind deswegen so
gefährlich, weil sie keine Angst mehr haben.“
Die eigenen Grenzen selbstverständlich annehmen
Wer älter wird, erfährt es – nicht nur, wenn gut erzogene Jugendliche in der Straßenbahn aufstehen und einem den Platz anbieten:
Die „Zipperlein“ werden zahlreicher, die Anfälligkeiten und Beschwerden häufen sich, die gesundheitlichen Probleme werden größer. Man muss lernen, mit
physischen Begrenzungen zu leben und mit einem schwächeren Körper. Es ist ein schmerzlicher Prozess, sich mit seinen physischen Begrenzungen
auszusöhnen. Natürlich ist man mit 60 nicht mehr so schnell wie mit 30. Der Arzt sagt einem irgendwann, dass die Schmerzen über
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