Leben Ist Jetzt
erwarten dürfen, sind wir doch für unsere innere Lebendigkeit
selbst verantwortlich. Im Alter werden wir beides erleben: wie dankbar wir uns auf die Treue des anderen verlassen dürfen; aber auch, dass jeder letztlich
sein eigenes Leben lebt und jeder für seine Lebendigkeit sorgen muss. Wenn wir das Leben nur vom anderen erwarten, überfordern wir ihn. Manche alten
Männer können es nicht annehmen, wenn sie krank werden und auf Hilfe angewiesen sind. Dann projizieren sie ihre mangelnde Selbstannahme auf ihre Frau und
kritisieren ständig an ihr herum. Die Frau darf das dann nicht auf sich beziehen, sondern soll ihrem Mannzutrauen, dass er sich mit
seinen Begrenzungen aussöhnt. So gibt es gerade im Alter neue Herausforderungen für die Partnerschaft. Jeder reift bis zuletzt weiter. Jeder muss sein
Leben lang lernen, seine Vorstellungen vom Leben loszulassen und sich mit der eigenen Realität und mit der Wirklichkeit seines Partners oder seiner
Partnerin aussöhnen.
Auch später braucht es beides: Nähe und Distanz
Männer und Frauen haben heute, anders als das vielleicht in der Generation vorher noch der Fall war, in aller Regel ein
partnerschaftliches Verhältnis eingeübt, das sich dann auch nach der Pensionierung positiv auswirkt, wenn noch mehr Zeit bleibt, das gemeinschaftliche
Leben zu gestalten. Aber auch das andere gibt es noch: dass Frauen der Pensionierung ihrer Männer, die im Beruf aufgehen, mit einer gewissen Angst
entgegensehen. Und nicht selten hört man auch heute noch Klagen wie die: „Seit mein Mann nach seiner Pensionierung ständig daheim ist, gehen wir einander
auf die Nerven und machen uns das Leben schwer.“
Wenn die alte Rollenverteilung nicht mehr funktioniert und man auf einmal ständig zusammen ist, ist es in der Tat nicht immer einfach,
zu einer neuen Form des Miteinanders zu finden. Die Pensionierung kann und sollte aber Anlass sein, ein neues Verhältnis von Nähe und Distanz zu
schaffen. Die Frau merkt jetzt vermutlich am stärksten, dass die Jahre, in denen der Mann zur Arbeit ging, und in denen sie möglicherweise auch gearbeitet
hat, ein bestimmtes Maß an Nähe und Distanz geschaffen haben, das beiden gut tat. Der Mann hatte seine Arbeit. Die Frau hatte ihre Arbeit und in der Regel
auch die Erziehung derKinder. Jeder konnte dort schalten und walten, wie er wollte. Man freute sich über die gemeinsame Zeit am Abend
oder an den Wochenenden. In ihr tauschten beide sich aus. Der Mann erzählte von der Arbeit, sie von den Kindern und von dem, was sie im Beruf erlebt
hatte. Wenn beide jetzt immer zusammen sind, dann muss das erst einmal eine Krise geben. Vielleicht hatten sich beide gefreut auf die viele gemeinsame
Zeit. Aber jetzt spüren sie, dass das ständige Zusammensein gar nicht so gut ist. Das ist ganz normal. Eine gute Ehe lebt vom ausgewogenen Miteinander,
von Nähe und Distanz. Mann und Frau müssen jetzt eben eine neue Form dieser Spannung finden. Wenn der Mann den ganzen Tag zu Hause ist und seiner Frau bei
der Hausarbeit oder beim Kochen zuschaut, dann geht er ihr notwendigerweise auf die Nerven. Denn sie fühlt sich nun auf einmal beobachtet oder gar
kontrolliert. Die Frau kann nicht mehr so arbeiten, wie sie gerne möchte und wie sie es gewohnt war. Beide sollten also nicht ständig zusammen sein. Sie
brauchen auch ihre Zeit für sich allein.
Ein Ehepaar erzählte mir, in welche Krise sie die Pensionierung des Mannes – er war Schulleiter – gestürzt hat. Als sie
gespürt haben, dass es so nicht weiter geht, haben sie sich gemeinsam überlegt, welche Rituale und welcher Rhythmus ihnen helfen könnte, wieder gut
miteinander umzugehen. Und so einigten sie sich, dass nach dem Frühstück jederden Vormittag für sich hat. Die Frau arbeitete im
Haushalt. Der Mann zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, wo er etwas las oder schrieb. Oder aber er ging spazieren oder pflegte seine verschiedenen
Hobbys. Dann freuten sie sich wieder auf das gemeinsame Mittagessen, den Mittagsschlaf. Die Nachmittage gestalteten sie verschieden. Manchmal machten sie
etwas gemeinsam, eine Wanderung oder einen Besuch. Manchmal blieb jeder für sich. Seitdem geht es ihnen gut.
Wichtig ist also, dass die Partner sich bereits vor dieser Umbruchsituation, die der Übergang vom Beruf ins Privatleben bedeutet,
überlegen, wie ein neues gutes Gleichgewicht von Nähe und Distanz sein könnte. Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen, dass
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