Leben lassen - ein Mira-Valensky-Krimi
dass sie für ihre Spielereien mit ‚Natascha‘ nicht viel übrig hatte? Kann es sein, dass sie die Entwicklung für zu kostspielig gehalten hat?“
„Zuerst halten Sie ‚Natascha‘ für meine Freundin, dann fantasieren Sie etwas über ein Veto meiner Frau. Machen Sie sich nicht lächerlich.“ Daschs Mund ist nur noch ein Strich.
Sieh an, jetzt spricht er doch mit mir. Ich provoziere: „Bei wichtigen Entscheidungen muss sie zustimmen. Nicht unpraktisch, wenn sie im richtigen Moment verschwindet.“
Der Halbleitermacher starrt mich wütend an. Ich habe blind gezielt und den Nagel auf den Kopf getroffen.
„Ich bin es, der die Firma leitet. Franziska ist Hausfrau“, sagt er mit Wut in der Stimme. Und wieder zu Droch gewandt: „Ich verlasse mich darauf, dass die Redakteurin nichts Falsches schreibt.“ Dann geht er, ohne mich auch nur anzusehen.
„Du hast noch eine Viertelstunde“, erinnert mich Droch. „Ich gebe dem Chefredakteur Bescheid, dass die Story im Heft bleibt.“
„Willst du sie nicht lieber selbst umschreiben?“, ätze ich.
„Du spinnst.“ Was, wenn er damit recht hat? Keine Zeit. Schreiben. Meine Version. Die doch stark voneinander abweichenden Versionen von Dasch und Weis. Das Foto von den beiden im Weingarten sieht jetzt doch etwas besser aus. Ich erkenne Dasch. Zumindest bilde ich es mir ein. Ich hab im ursprünglichen Text schon einige Zeilen gekürzt und dadurch Platz gewonnen. Weis, Dasch, verbindende Sätze. Fertig. Ich schicke die Reportage per E-Mail an Droch und den Chefredakteur. Ich bin erschöpft. Aber ich habe das gute Gefühl, dass die Story an Kraft gewonnen hat. Und wer oder was ‚Natascha‘ wirklich ist und was Franziska Dasch von ihr gehalten hat, werde ich auch noch herausfinden.
[ 11. ]
Ich habe eine Praktikantin von der Außenpolitik vor einigen Tagen gebeten, mir Material von Zerwolf zu den Anschlägen auf das World Trade Center und den Terrorakten in den Jahren danach zusammenzusuchen. Sofern er dazu etwas gesagt hat. Ich hatte schon darauf vergessen. Aber jetzt liegt in meinem Posteingang eine Klarsichtmappe mit einer beachtlichen Anzahl an kopierten Blättern. Darauf ein Notizzettel: „Sie waren leider nicht am Schreibtisch. Ich muss weg, bin am Nachmittag wieder in der Redaktion. Herzliche Grüße, Heidi.“
Wenn ich mir die Artikel über den Terroranschlag ansehe, kann daraus wohl keiner ableiten, dass ich selbst etwas mit Terror zu tun habe, oder? Mira, du fängst an, das zu tun, was das „Blatt“ möchte. Menschen, die dieses Schmierblatt nicht mag, sollen mundtot gemacht werden. Verhofen hat es nur gut gemeint, aber ich darf nicht den Fehler machen, aus Angst vor möglichen Gerüchten meine Recherchen sein zu lassen. Ich seufze. Ich will nicht, dass Valentin Freytag in die Sache hineingezogen wird. Das ist alles so absurd. Ach was, der kann sich ganz gut wehren. Und Vesna wird lachen, wenn ich ihr davon erzähle. Aber übers Telefon riskiere ich es doch nicht.
Ich lese ein Interview, das Zerwolf der „Zeit“ gegeben hat, nur eine Woche nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Böswillige Menschen könnten es auch so interpretieren, dass Zerwolf meint, die USA seien selbst schuld gewesen. Die Aktion der Terroristen versteht er als Re-Aktion auf die Politik der USA. Auf die Frage, ob er darin eine „legitime Reaktion“ sehe, antwortet er: „Ich bin kein Moralist. Ich sage nur, wir definieren uns durch unser Handeln.“ Und eigentlich sei ein Akt wie diese Anschläge eine sehr typische Antwort von Fanatikern, die alles, was ihnen heilig sei, von einem, der sich für stärker und besser halte, in den Schmutz gezogen sehen. Terror sei keine Aktion der Starken, sondern eine Reaktion von denen, die sich schwach, unterdrückt und unverstanden fühlten. „Und wie lässt sich das lösen?“, fragt der Redakteur. Schon wenn man die Muster erkenne, sei ein Anfang gemacht. Letztlich aber helfe wohl nur eines: eine gerechtere Verteilung von Kapital und Ressourcen. Also doch die Weltrevolution, überlege ich.
Ich habe endlich mein Auto, das seit Tagen in der Tiefgarage des „Magazin“ gestanden ist, geholt und fahre heim. Der Grundtenor war in allen Interviews, die Zerwolf gegeben hat, in allen Artikeln, die er geschrieben hat, gleich: keine philosophische, sondern eine politische Sicht auf die Dinge. Menschen sind nicht so, weil sie so sind, sondern die Welt ist so, weil niemand bereit ist, sich zu ändern. Oder ist das doch eine Fortschreibung
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