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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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an einem anderen Roman sitzt.« Don Ramon hatte das natürlich schon vor seiner Abfahrt gewusst.
    Von der ersten Zeile an war mir klar, dass der neue Roman von den Erinnerungen eines Siebenjährigen ausgehen sollte, der 1928 das öffentliche Massaker in der Bananenregion überlebt hatte. Ich habe diesen Ansatz jedoch bald aufgegeben, weil damit die Darstellung auf die Perspektive einer Figur eingeschränkt war, die nicht genügend dichterische Mittel bot, die Geschichte zu erzählen. Es wurde mir bewusst, dass mein tollkühnes Abenteuer, den Ulysses mit zwanzig Jahren zu lesen und kurz darauf Schall und Wahn, verfrüht und zukunftslos gewesen war, und ich beschloss, mir beide Bücher unvoreingenommen noch einmal vorzunehmen. Tatsächlich offenbarte sich mir vieles von dem, was mir bei Joyce und Faulkner zunächst als hermetisch oder pedantisch erschienen war, nun in einer beängstigenden Schönheit und Einfachheit. Ich kam auf die Idee, den Monolog auf Stimmen aus dem ganzen Dorf aufzuteilen, in der Art eines erzählenden griechischen Chors, wie in Als ich im Sterben lag, einem Roman, der aus den gegeneinander geschnittenen Reflexionen einer Familie besteht, die sich um einen Sterbenden versammelt hat. Ich hielt es für unmöglich, Faulkners einfaches Mittel, den Namen des jeweiligen Sprechers wie bei einem Theaterstück anzugeben, noch einmal zu verwenden, aber solche Überlegungen brachten mich darauf, nur mit drei Stimmen zu arbeiten, der des Großvaters, der Mutter und des Jungen, Stimmen, die von der Sprache und vom Schicksal her so unterschiedlich waren, dass man jede für sich erkennen konnte. Der Großvater in dem Roman würde nicht einäugig wie der meine sein, aber hinken; die Mutter in Gedanken versunken, doch intelligent wie die meine, und der Junge unbeweglich und verschreckt, wie ich es in diesem Alter immer gewesen war. Das war keineswegs eine schöpferische Eingebung, sondern gerade einmal ein technischer Kniff.
    Das neue Buch erfuhr keine grundlegende inhaltliche Änderung während des Schreibens, und es gab auch keine andere Fassung neben dem Original, dafür Streichungen und Verbesserungen in den zwei Jahren bis zur Erstveröffentlichung, und es war fast ein Laster, möglichst immer weiter zu korrigieren, bis man starb. Das Dorf - das ganz anders als das des vorherigen Projekts war - hatte ich in der Wirklichkeit gesehen, als ich mit meiner Mutter nach Aracataca zurückgekehrt war, doch - dank der Warnung des weisen Don Ramon - schien mir dieser Ortsname ebenso wenig überzeugend wie Barranquilla, weil auch ihm nicht der mythische Hauch innewohnte, den ich für meinen Roman suchte. Also beschloss ich, dem Dorf einen Namen zu geben, den ich zweifellos schon als Kind gekannt hatte, dessen magischer Nachklang sich mir aber erst jetzt offenbart hatte: Macondo.
    Den Titel La casa - meinen Freunden inzwischen sehr vertraut -musste ich ändern, da er nichts mit dem neuen Projekt zu tun hatte, ich beging jedoch den Fehler, alle Titel, die mir beim Schreiben einfielen, in ein Schulheft zu notieren, so dass ich schließlich über achtzig hatte. Als ich die erste Fassung fast beendet hatte, gab ich der Versuchung nach, einen Prolog zu schreiben, und dabei fand ich den Titel, ohne danach zu suchen. Er sprang mich förmlich an, und es war der so geringschätzige wie mitleidige Begriff, mit dem meine Großmutter in ihren aristokratischen Anwandlungen den Tross der United Fruit Company belegt hatte: Laubsturm.
    Beim Schreiben dieses Buches wurde ich am meisten von nordamerikanischen Romanciers angeregt, besonders von jenen, die mir die Freunde aus Barranquilla nach Sucre geschickt hatten. Vor allem, weil ich in diesen Büchern Verwandtschaften aller Art zwischen der Kultur der Südstaaten und jener der Karibik entdeckte, mit der ich mich als Mensch und als Schriftsteller auf eine absolute, wesentliche und nicht austauschbare Weise identifiziere. Nachdem mir das bewusst geworden war, begann ich wie ein echter Handwerker des Romans zu lesen, nicht nur zum Vergnügen, sondern weil ich, von unersättlicher Neugier getrieben, herausbekommen wollte, wie die Bücher der Weisen aufgebaut waren. Ich las sie erst vorwärts und dann rückwärts und unterzog sie gewissermaßen chirurgischen Eingriffen, um die verborgensten Geheimnisse ihrer Struktur freizulegen. Schon deshalb ist meine Bibliothek nie mehr als ein Arbeitsinstrument gewesen, in der ich sofort ein Kapitel von Dostojewski überprüfen oder eine Information über

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