Leben und Schicksal
mit ihr. Das Kind war auch irgendwie trübsinnig. Am liebsten beschäftigte es sich mit Käfern, Grashüpfern, Schaben – und das auf seltsame Weise, nicht wie andere Kinder: Es küsste die Käfer, erzählte ihnen etwas, ließ sie dann laufen, weinte, rief sie mit Namen. Im Herbst hatte ihm die Alte aus dem Wald einen Igel mitgebracht, und das Mädchen kümmerte sich ständig um ihn, folgte ihm auf Schritt und Tritt. Wenn der Igel grunzte, war es überglücklich. Kroch er unter die Kommode, setzte es sich daneben auf den Boden, wartete auf ihn und warnte seine Mutter: »Still, er ruht sich aus.« Als der Igel im Wald verschwunden war, wollte das Mädchen zwei Tage lang nichts essen.
Die Alte hatte immer das Gefühl, die Untermieterin könnte sich aufhängen. Wohin dann mit dem Kind? Auf ihre alten Tage wollte sie keine Scherereien.
»Ich schulde niemandem etwas«, sagte sie immer, und es quälte sie tatsächlich diese grässliche Vorstellung: Eines Morgens steht sie auf, und die Untermieterin hängt da. Wohin dann mit dem Mädchen?
Sie vermutete, dass die Untermieterin von ihrem Mann verlassen worden war, der an der Front eine Jüngere gefunden hatte, und deshalb so trübsinnig war. Briefe von ihm kamen selten, und wenn einer kam, wurde die Frau auch nicht fröhlicher. Es war nichts aus ihr herauszubekommen – sie schwieg. Auch die Nachbarinnen hatten bemerkt, was für eine sonderbare Untermieterin die Alte hatte.
Die Alte hatte genug Kummer mit ihrem eigenen Mann gehabt. Er hatte getrunken und war streitsüchtig gewesen. Und wenn er sie schlug, dann nicht wie andere, sondern möglichst mit dem Schürhaken oder mit einem Knüppel. Auch die Tochter hatte er geschlagen. Und nüchtern war er auch nicht viel besser gewesen: Er war geizig, nörgelte, steckte seine Nase in die Töpfe wie ein Weib, hatte immer etwas zu meckern. Er belehrte sie, wie sie kochen müsse, maulte, sie habe falsch eingekauft, könne nicht richtig melken und das Bett nicht ordentlich machen. Und jedes zweite Wort war ein wüster Fluch. Er hatte ihr das Fluchen beigebracht, sie fluchte jetzt auch, beschimpfte sogar ihre geliebte Kuh. Als der Mann starb, hatte sie ihm keine einzige Träne nachgeweint. Bis ins hohe Alter war er hinter ihr her gewesen. Was sollte sie mit ihm machen, wenn er doch betrunken war? Hätte er sich wenigstens in Gegenwart der Tochter zurückgehalten, sie schämte sich, wenn sie daran dachte. Und geschnarcht hatte er – vor allem, wenn er besoffen war. Und ihre Kuh war eine solche Stromerin, riss immer aus. Beim geringsten Anlass rannte sie aus der Herde weg; ein alter Mensch konnte sie nur mit Müh und Not wieder einfangen.
Bald lauschte die Alte, was hinter der Trennwand geflüstert wurde, bald erinnerte sie sich an ihr unglückliches Leben mit ihrem Mann, und bei allem Verdruss verspürte sie doch ein wenig Mitleid mit ihm. Schließlich hatte er ja schwer gearbeitet und wenig verdient. Ganz schlecht wäre es ihnen ergangen, wenn sie die Kuh nicht gehabt hätten. Gestorben war er, weil seine Lungen voll mit Staub aus der Grube waren. Sie aber war nicht gestorben, sie lebte. Einmal hatte er ihr ausJekaterinburg 6 sogar eine Halskette mitgebracht, die Tochter trug sie jetzt …
Am frühen Morgen, das Mädchen schlief noch, ging das Paar im Nachbardorf Brot holen. Auf einen Armee-Reisegutschein konnte man dort Weißbrot bekommen.
Sie gingen schweigend, hielten sich an den Händen. Man musste eineinhalb Kilometer durch den Wald, dann zum See hinunter und am Ufer entlanggehen.
Der Schnee war noch nicht geschmolzen und schimmerte bläulich. Seine großen, rauen Kristalle reflektierten das Blau des Sees. An der Sonnenseite eines Hügels taute der Schnee, das Wasser rauschte im Straßengraben. Das Funkeln des Schnees, des Wassers, der vereisten Pfützen blendete sie. Es gab so viel Licht, dass man sich durch dieses Gleißen durchschlagen musste wie durch einen Dschungel. Das Licht machte unruhig, störte, und wenn sie auf vereiste Pfützen traten, blitzte das Eis in der Sonne auf, und es war, als knistere das Licht unter den Füßen, zerfalle in stachelige, scharfe Strahlensplitter. Das Licht floss im Straßengraben, und wo Steine einen kleinen Damm bildeten, schwoll es an und sprühte in einem klirrenden Schaumgeriesel auf. Die Frühlingssonne war der Erde ganz nahe gekommen, die Luft kühl und warm zugleich.
Der Mann hatte das Gefühl, als werde seine Kehle, die von Frost und Wodka verbrannt, von Tabak und Pulvergasen
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