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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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sich, schwiegen.
    »Ach, Kirillow, Kirillow«, sagte Jerschow plötzlich, »unser Vater hat ganz recht. Wir müssen uns über den Hass der Faschisten freuen. Wir hassen sie, sie hassen uns. Verstehst du? Überleg doch mal – zu den eigenen Leuten ins Lager zu kommen, das ist das wahre Unglück. Was ist das hier schon dagegen? Wir sind kräftige Burschen, wir werden es den Deutschen schon noch zeigen.«
    7
    Den ganzen Tag über hatte das Kommando der 62. Armee keine Verbindung zu den Truppeneinheiten gehabt. Viele Empfangsgeräte waren ausgefallen; die Telefonleitung war überall zerstört worden.
    Es gab Minuten, da empfanden die Menschen, die auf das fließende, sich kräuselnde Wasser der Wolga blickten, den Fluss als etwas Unbewegtes, an dessen Ufer die bebende Erde wie bei starkem Seegang schwankte. Hunderte schwerer sowjetischer Geschütze feuerten über die Wolga herüber. Über der deutschen Stellung an der südlichen Hangseite des Mamajew-Hügels wirbelten Erd- und Lehmklumpen durch dieLuft. 2
    Die zusammengeballten Erdwolken wurden gleichsam durch das magische, unsichtbare Sieb der Schwerkraft gefiltert, und wie bei einem Schüttelrost stürzten die schweren Brocken und Klumpen zur Erde, das leichte Staubgemisch stieg in den Himmel auf. Ein paarmal am Tag stießen die Rotarmisten, betäubt und mit entzündeten Augen, auf deutsche Panzer und Infanterie.
    Den Offizieren im Kommando, dessen Verbindung zu den Truppen abgerissen war, erschien der Tag zermürbend lang.
    Was versuchtenTschuikow 3 , Krylow und Gurow nicht alles, um diesen Tag auszufüllen – sie taten, als arbeiteten sie, schrieben Briefe, diskutierten über mögliche Truppenverschiebungen des Gegners, machten Witze, tranken Wodka mit und ohne Sakuska, schwiegen und lauschten dem Geschützdonner. Der eiserne Wirbelsturm heulte um den Unterstand, mähte alles Lebendige nieder, das auch nur einen Augenblick seinen Kopf über die Erdoberfläche erhob. Der Stab war gelähmt.
    »Los, spielen wir Karten«, sagte Tschuikow und schob den voluminösen Aschenbecher voller Zigarettenstummel in die Tischecke.
    Selbst der Chef des Armeestabes, Krylow, verlor die Ruhe. Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch und sagte:
    »Es gibt keine schlimmere Situation, als sich ruhig halten zu müssen, nur damit sie einen nicht ganz aufreiben.«
    Tschuikow teilte die Karten aus und verkündete: »Herz ist Trumpf.« Dann mischte er plötzlich den Kartenstoß und sagte:
    »Wir sitzen hier wie die Hasen und spielen Karten. Nein, das kann ich nicht!«
    Grübelnd saß er da. Sein Gesicht drückte einen solchen Hass, eine solche Qual aus, dass es schrecklich anzusehen war.
    Gurow wiederholte nachdenklich, wie in einer Vorahnung seines Schicksals: »Ja, an einem solchen Tag kann man an zerrissenem Herzen sterben.«
    Dann lachte er auf und sagte: »In der Division tagsüber auszutreten – du kannst dir nicht vorstellen, wie schlimm das ist! Mir hat einer erzählt, der Stabschef von Ljudnikow sei in den Unterstand gestürmt und habe geschrien: ›Hurra, Jungs, ich hab geschissen!‹ Er sah sich um, da saß im Unterstand die Ärztin, in die er verliebt ist.«
    Mit dem Einbruch der Dunkelheit hörten die deutschen Fliegerangriffe auf. Ein gewöhnlicher Sterblicher, der nachts an das Stalingrader Ufer geraten wäre, hätte wahrscheinlich, völlig betäubt durch den Lärm, angenommen, dass ihn ein feindliches Geschick zur Stunde des entscheidenden Angriffs nach Stalingrad geführt habe. Doch für die alteingesessenen Kämpfer war dies die Zeit, sich zu rasieren, die kleine Wäsche zu waschen und Briefe zu schreiben, die Zeit, in der die Fronthandwerker – Schlosser, Dreher, Schweißer, Uhrmacher – Feuerzeuge, Zigarettenspitzen und Bunkerlichter aus Geschosshülsen (mit Dochten aus Uniformtuch) bastelten oder einfache Pendeluhren reparierten.
    Das flackernde Feuer der Detonationen erleuchtete das Steilufer, die Ruinen der Stadt, die Öltanks, die Fabrikschornsteine – und in diesen Augenblicken boten Ufer und Stadt einen unheilvollen, düsteren Anblick.
    In der Dunkelheit lebte die Nachrichtenzentrale der Armee auf, begannen die Schreibmaschinen zu klappern, auf denen die Kopien militärischer Meldungen vervielfältigt wurden, summten kleine Motoren, lärmten die Morseapparate, riefen sich die Telefonisten über die Leitungen einander etwas zu. Die Kommandostellen der Divisionen, Truppen, Batterien und Kompanien schalteten sich in das Netz ein. Respektvoll räusperten sich die

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