Lebenselixier
das dünne Glasröhrchen hoch, das er aus Wilhelms Hals gezogen hatte.
„Ein Volltreffer. Er hat die ganze Dosis intus.“
„Es tut mir leid“, murmelte Lukas, ohne aufzublicken.
„Schon gut“, beschwichtigte Arne. Seine Stimme klang rau. „Ich hätte es besser
wissen müssen.“
Mit seiner verrückten Aktion hatte Lukas es schwieriger, wenn nicht unmöglich
gemacht, die Gefährten zu befreien.
Arne warf Jan warnende Blicke zu. Wären die Jäger nicht gewesen, Jan hätte sich
auf Lukas gestürzt, und sei es nur, um seine wütende Frustration abzureagieren.
Das Überraschungsmoment war dahin. Die asphaltierten Flächen rund um das
Bürohaus in blendendes Flutlicht getaucht.
Arne hörte laute
Stimmen und eilige Schritte in schweren Stiefeln. Ganz automatisch versuchte
sein Verstand, den Geist der Sterblichen zu erfassen. Aber für ihre
telepathischen Sinne blieben die Männer, die alle Zugänge zum Gebäude
sicherten, unerreichbar. Der Jäger übergab Jamal den Betäubungspfeil, den er
aufgefangen hatte.
„Jeremias wird wollen, dass das Zeug analysiert wird.“
Das tiefe Grollen kam direkt aus Jans Brustkorb. „Denkt noch irgendjemand
drüber nach, wie wir Thomas da rausholen?“
„Ja, verdammt. Ich denke an nichts anderes, aber die Situation hat sich grade
eben grundlegend verändert“, zischte Arne.
Jamal versuchte, von hinten an Jan heranzutreten, um ihn gegebenenfalls
festhalten zu können, doch der bemerkte das Manöver, knurrte beide Männer an.
„Jan, hör auf!“ Langsam, als hielten bleischwere Gewichte ihn am Boden, stand
Lukas auf. „Du willst dich nicht wirklich mit Jägern prügeln.“
Arne trat zwischen die beiden jungen Bluttriker. „Nein, willst du nicht! Und
ihr beiden werdet das auch nicht tun! Da drin sind eure Gefährten“, er deutete
vage in Richtung Bürogebäude. „Sie sind darauf angewiesen, dass ihr euch
zusammenreißt.“
Jan wandte sich ab und verschränkte die Arme, während Lukas endgültig auf die
Beine kam.
„Wie sieht Plan B aus?“, fragte Jamal.
„Was ist mit ihm?“ Arne deutete mit dem Kinn auf Wilhelm.
„Sein Puls wird schneller“, berichtete Klaas. „Er wacht wahrscheinlich in ein
paar Minuten auf.“
Ein zusätzlicher
Lichtschein, der auf die Bluttrinker fiel, erregte Arnes Aufmerksamkeit. Im
vierten Stock leuchtete eine ganze Fensterreihe auf. Hinter den Scheiben
bewegte sich etwas. Arne fasste seine Pistole fester. Zwei breite Fensterflügel
öffneten sich.
Im ersten Fenster erschien eine hagere Gestalt. Um ihren Schädel leuchtete, wie
ein faseriger Heiligenschein, ein zerzauster Haarkranz. Arne hätte die Bilder,
die Jeremias ihm von seinem Besuch bei Goldshield-Pharmaceutics übermittelt
hatte nicht gebraucht. Das konnte nur Walser sein.
Arne hörte das tiefe Grollen aus Jans Kehle, noch bevor er der beiden Skins im
zweiten Fenster gewahr wurde. Zwei breitschultrige Männer, die einen kleineren,
schlanken Mann wie eine Lumpenpuppe zwischen sich trugen.
Thomas!
Ein hünenhaft gebauter Kerl, mit tätowiertem Schädel riss den Kopf des
Gefährten zurück und hielt ein erschreckend großes Messer an seine Kehle.
„Jamal!“
Der Jäger hatte bereits reagiert und hielt Jan eisern umklammert.
„Hey, Monster!
Hört ihr mich? Wo habt ihr euch verkrochen? Beim nächsten Versuch ist euer
Schätzchen hier einen Kopf kürzer. Nach meiner Erfahrung wächst der nicht
wieder nach!“, höhnte Walser. Er lehnte sich leicht zurück und lauschte auf
etwas, was hinter ihm geschah. „Wir haben noch eine von euren Blutquellen hier.
Die ist mindestens genauso schnell tot, wie euer schwuler Freund.“
„Wir sind Jäger.“
Arne trat aus der Deckung des Gebüschs heraus, darauf gefasst, jeden Augenblick
einem Projektil ausweichen zu müssen. Hinter ihm begann Wilhelm sich grade wieder
zu regen. „Wir geben euch die Chance, eure Gefangenen sofort freizulassen. Tut
ihr das nicht, müssen wir euch töten.“
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Wenn sie diese Sterblichen nicht im
Kampf töteten, war es ihre Aufgabe, sie gefangen zu nehmen. Dann musste der Rat
über sie urteilen. Drei junge Bluttrinker waren tot. Das Urteil war absehbar.
„Die Burschen da am Fenster könnten wir abschießen wie Tontauben“, wisperte
Klaas.
Lukas ballte die Fäuste. „Und inzwischen bringen sie Tony um.“
Affektiertes
Gelächter antwortete Arne. „Ich verhandele nicht mit Monstern. In zwei Stunden
geht die Sonne auf. Dann werden wir sehen.“
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Einer von Walsers
Schergen
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