Lebenselixier
Grenzen gesetzt.
Wir sind nicht kreativ, Tony! Selbst um ein bereits komponiertes Musikstück,
oder eine festgelegte Theaterrolle überzeugend rüberbringen zu können, braucht
es Kreativität. Die Fähigkeit, etwas zu interpretieren, statt es nur zu
reproduzieren. Das dürfte der Ursprung sein, für die Vorstellung, dass wir
keine Seele haben. Da ist nichts in uns, was einfach heraussprudeln und sich
ausdrücken will. In uns ist nur Durst und Verlangen und Gier. Und Langeweile.
Die Gier und die Langeweile machen uns grausam, wenn wir nicht ständig dagegen
ankämpfen.“
06
Charles Cross
tat, was jeden Abend um dieselbe Zeit auf dem Programm stand. Er betrat das
Labor und überprüfte die Infusion des Gefangenen. Die Kanüle mit der
wasserklaren Flüssigkeit verschwand im Nacken der Kreatur, unmittelbar unter
dem Hinterhauptbein und gab das Medikament direkt in den Liquor ab, in die
Flüssigkeit, die das Gehirn umgab.
Er begutachtete die Haut des Vampirs, die noch am Morgen von den Verbrennungen
der UV-Lampe verunstaltet wurde. Die letzten Spuren verblassten bereits. Das
musste er notieren. Die Kreatur heilte bei Tag ebenso gut wie über Nacht. Er
bereitete die routinemäßige Blutabnahme vor, beugte sich über den
bewegungsunfähigen Körper – und erstarrte.
Seit Tagen
weigerte der Vampir sich beharrlich, ihre Fragen zu beantworten, ignorierte
sie, soweit es ihm möglich war. Doch jetzt starrten diese sturmgrauen Augen
unverwandt in seine, bannten ihn, ließen jeden Gedanken aus seinem Hirn
verdunsten. Dabei fühlte Charles sich plötzlich ganz ruhig und locker.
Ein geiles Gefühl! Viel besser, als high zu sein. Was wollte er noch grade tun?
Ach ja, richtig! Er musste den Gefangenen befreien.
Verwundert blickte er auf die Spritze in seiner Hand. Was er nur damit
vorgehabt hatte? Egal. Zunächst die Infusion.
Er trat ans
Kopfende der Liege und drosselte den Durchfluss, bis das gleichmäßige Tropfen
aufhörte. Von der Tür her drang die Stimme einer Frau in sein Bewusstsein,
aufdringlich und störend. Er kannte sie natürlich. Hannah, diese christliche
Spinnerin. Was redete sie nur wieder für einen Blödsinn?
„Ist mit der
Infusion was nicht in Ordnung? Ich habe sie erst vor einer halben Stunde
gewechselt. - Charles, was tun sie denn da? Sie haben doch ausdrücklich gesagt,
dass es nur ein paar Sekunden dauern darf, bis die Medikamente …“
Charles hörte kaum hin. Schließlich hatte er wichtige Arbeit zu erledigen.
Entschlossen legte er die Hand auf das erste der massiven Schlösser und schob
den Riegel mit einem Klicken nach oben. Hinter ihm stieß Hannah die schwere
Sicherheitstür auf und begann zu kreischen.
„Herr Professor! Oh, mein Gott, Herr Prof …!“
Charles wirbelte herum. Nie zuvor hatte er sich so schnell bewegt. Bevor Hannah
es in den Flur hinaus schaffte, umklammerte er sie von hinten und hielt ihr den
Mund zu. Er drückte sie an die Wand neben der Tür und hielt sie mit seinem
Körper fest. So bekam er eine Hand frei, die er auf ihre Kehle presste. Hannah
gab noch einige gurgelnde Laute von sich, dann erlahmte ihre Gegenwehr. Als sie
in den Knien einknickte, ließ Charles sie los und wandte sich dem zweiten
Schloss zu.
Der Vampir
stemmte sich mit übermenschlicher Kraft gegen das Stahlgitter, doch er würde es
allein nicht schaffen. Charles Hand lag bereits auf dem Hebel. Eine Woge des
Triumphs überkam ihn - bis er brutal nach hinten gerissen wurde.
Ein dumpfes Grollen tierhaften Zorns rollte durch den Raum. Hatte er dieses
Geräusch von sich gegeben? Oder der Gefangene? Jedenfalls fühlte er die gleiche
Wut, die auch den Vampir durchströmte.
Mit einer Kraft,
von der er nicht geahnt hatte, dass sie in ihm steckte, fasste er hinter sich
und befreite sich aus dem Griff des Professors. Er sah, wie die Augen des alten
Mannes sich erschrocken weiteten. Er packte Walser an der Kehle und schleuderte
ihn mit dem Hinterkopf auf die geflieste Arbeitsplatte der Laborbank. Mit einem
kläglichen Keuchen brach der Professor zusammen.
Schon schlangen sich erneut Arme um seine Brust – zögerlicher als die des
Alten. Bevor Charles realisieren konnte, dass es der Priester sein musste, der
ihn jetzt angriff, spürte er einen scharfen Luftzug neben seinem Ohr. Etwas
Hartes sauste auf seinen Schädel nieder. Ein Aufflackern von Rot, rot wie Blut.
Dann war nur noch Schwärze.
Der Mörser, mit
dem Hannah Cross niedergeschlagen hatte, fiel zu Boden. Das Scheppern des
schweren Gegenstandes auf
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