Lebenselixier
den Fliesen ließ Vincente zusammenzucken. Hannah
presste die Hände vor den Mund und starrte fassungslos auf das Blut, welches
das dünne Blondhaar des Assistenten färbte.
„Oh mein Gott! Charles?“
„Hannah, schnell“, drängte Vincente. „Die Infusion. Drehen Sie sie wieder auf.
Und sehen sie ihm bloß nicht in die Augen, das muss Charles Fehler gewesen
sein.“
Der Priester seufzte erleichtert, als Hannah sich an dem Schlauch zu schaffen
machte. Er selbst beeilte sich, den geöffneten Riegel zu schließen. Dabei
befolgte er seine eigene Ermahnung und vermied es strikt, der Kreatur ins
Gesicht zu sehen.
Er mied den Blick ihres Gefangenen nicht nur aus Vorsicht.
Vincente hatte
gesehen, wie sich die Wunden dieses jungen Mannes im Zeitraffertempo schlossen
und die Reißzähne, die aus seinem Kiefer wuchsen, wenn er Menschenblut roch.
Doch ebenso sah er seit Tagen mit an, wie dieses Wesen gnadenlos gefoltert
wurde. Walser schnitt ihn bei lebendigem Leibe auf, stieß Nadeln tief in seinen
Körper und entnahm ohne jede Betäubung die verschiedensten Gewebeproben. Oder
sie bestrahlten ihn mit einer ganzen Batterie UV-Lampen, bis seine Haut in
Blasen aufplatzte.
Betroffen verfolgte Vincente Hannahs gänzlichen Mangel an Mitgefühl, angesichts
dieser Leiden. Sie betrachtete diesen Jungen als Ausgeburt der Hölle, die
keinerlei Schonung verdiente. Die Vorstellung schien auszureichen, um jegliche
Menschlichkeit zum Schweigen zu bringen.
Über eines war Vincente sich im Verlauf der vergangenen Monate klar geworden:
Er selbst glaubte weder an die leibhaftige Hölle noch an Dämonen.
Er hatte keine
Ahnung, was er von der Kreatur halten sollte, die auf dieser Folterbank lag.
Doch er konnte sehen, dass er lebte, atmete, blutete. Und er hörte, wie er vor
Schmerzen schrie. Mehr als einmal hatte er den Raum verlassen müssen, weil Walsers Untersuchungen ihm Übelkeit bereiteten. Er wünschte, dieser Albtraum
hätte ein Ende, aber er wusste nicht, wie er das bewerkstelligen sollte.
Während Hannah
nervös an dem winzigen Plastikstellrad der Infusion herumfummelte, kniete
Vincente nieder und überprüfte Charles Puls und Atmung. Der Mann begann sich
bereits zu regen, wenn er auch schauerlich aussah. Das Blut aus der Platzwunde
verteilte sich über sein Gesicht. Wahrscheinlich sollte die Wunde genäht
werden.
Walser lag noch immer reglos, obwohl ihm äußerlich keine Verletzung anzusehen
war. Die Gewalt des Schlages, mit der Charles den Professor abgewehrt hatte,
war härter gewesen als der Marmormörser in Hannahs Hand. Was, wenn einer der
Männer ernstlich verletzt war, etwa einen Schädelbruch davongetragen hatte?
Walsers Puls und Atem gingen kräftig und regelmäßig. Als Vincente vorsichtig
den Hinterkopf betastete und auf eine anschwellende Beule stieß, stöhnte der
Professor und bewegte den Kopf.
„Gott sei Dank“, brummte Vincente und empfand zugleich Scham. Sein
vordringlichster Gedanke galt nicht den Verletzten. Ihm graute bei der
Vorstellung, seine eigene Rolle in diesem bizarren Spiel könnte auffliegen.
Dann müsste er nicht nur der Polizei, sondern auch den Institutionen seiner
Kirche Rede und Antwort stehen.
Vincente
schüttelte ärgerlich den Kopf, nicht nur, um die Gedanken an die möglichen
Folgen seines Handelns zu verscheuchen.
Charles hatte völlig recht gehabt. Seit Wochen versuchte der Assistent, Walser davon
zu überzeugen, dass sie Unterstützung brauchten. Kampferprobte Mitstreiter, die
eine Chance hatten, sich diesen Kreaturen in den Weg zu stellen, sollte es zum
Äußersten kommen.
Ausgeschlossen, hatte Walser behauptet. Sein Stolz über die Substanz, die er
entdeckt hatte, machte den Wissenschaftler leichtsinnig. Gewiss, das Mittel
betäubte die teuflischen Kräfte der Vampire. Und es verlieh den Menschen, die
es einnahmen, Widerstandskraft gegen ihren Einfluss. Doch offensichtlich gab es
Grenzen.
Diese Kreatur war die Stärkste, die sie bisher untersucht hatten, obwohl er
nicht wesentlich älter schien als seine Vorgänger. Dabei hatte Walser sogar mit
dem Gedanken gespielt, einen erwachsenen Vampir gefangen zu nehmen.
Nicht auszudenken!
„Ihr werdet alle
sterben.“ Der Hass des Vampirs ließ seine Stimme rau klingen.
Unwillkürlich hob der Priester den Blick, seiner eigenen Warnung zum Trotz.
Wild und bösartig nahmen die Augen ihn gefangen. Sandten ihm Botschaften, die
ihn zwingen wollten, sich selbst mit einem Skalpell die Pulsadern
aufzuschneiden, seine eigene Zunge zu verschlucken.
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