Lebenselixier
Granit-Arbeitsplatte und schob es nachdenklich hin und
her. „Wenn Etienne ein Scheusal wäre, wär alles viel einfacher. Ich hätte mich
schon Anfang des Jahres aus dem Staub gemacht, als Yvette abgehauen ist. Ich
dachte damals, sie wäre feige. Das war ziemlich dumm von mir.“
„Hast du noch Kontakt zu Yvette?“
Sue schüttelte den Kopf. „Nein, gar nicht. Sie wollte ein neues Leben anfangen.
Sie hat darauf bestanden, dass wirklich jede Erinnerung an das hier aus ihrem
Gedächtnis gelöscht wird. Etienne hat das selbst erledigt.“
Tony hörte die
schmerzliche Fassungslosigkeit hinter dieser schlichten Erklärung und verstand,
was in Sue vorging. Yvette war mehrere Jahre Etiennes Geliebte gewesen. Er
hatte sie allen anderen vorgezogen, indem er sie nicht mehr als Prostituierte,
sondern an der Bar arbeiten ließ. Sogar einen Anteil an seinem Geschäft hatte
er ihr überschrieben. Für Etienne war das eine ganze Menge. Auch Lukas hatte
das gesagt.
Nach den
schrecklichen Erlebnissen im vergangen Winter, als sie alle in die Hände der
menschenverachtenden Alten Götter gerieten, fasste Yvette den Entschluss, der
Welt der Bluttrinker den Rücken zu kehren. Etienne akzeptierte diese
Entscheidung. Ohne mit der Wimper zu zucken.
Großzügig, wie er in dieser Hinsicht war, hatte er ihr ihren Anteil ausgezahlt.
Yvette - oder wie auch immer der richtige Name der aus Jena stammenden Frau
gelautet haben mochte - wusste nicht einmal mehr, dass ein Mann namens Etienne
in ihrem Leben eine Rolle gespielt hatte.
Es war nicht
einfacher geworden, von Sues Sehnsüchten zu hören, jetzt, da Tony wusste, und
bis zu einem gewissen Punkt sogar verstand, warum Etienne sich so verhielt. Sie
hatte Thomas hoch und heilig geschworen, nichts weiterzuerzählen. Am wenigsten
Sue.
„Ich rede mir
seit einem halben Jahr ein, dass ich ihm Zeit lassen muss. Dass es auch für ihn
ein furchtbarer Schock war, den er noch nicht verarbeitet hat. Wenn ich Nacht
für Nacht zusehe, wie er sich mit praktisch jeder Frau hier amüsiert ... ich
mach mir was vor, ich weiß das. Aber ich kann nicht aufhören. Ich hab´s
versucht. Jedes Mal, wenn ich vor ihm stehe und ihm sagen will, dass ich gehe,
bleiben mir die Worte im Hals stecken. Ich habe dieses gefühlsduselige Bild im
Kopf, wie er mich bittet zu bleiben. Dabei weiß ich ganz genau, dass er das
nicht tun wird. - Er hat nicht mal Yvette gebeten zu bleiben. Kein einziges
Mal.“
Jan schien in der
Küchentür zu materialisieren.
„Wo ist er?“
„Was?“ Sue starrte den Bluttrinker verwirrt an.
„Im Laden“, erinnerte Tony sich. „Er wollte in irgendeinen Laden.“
Jan verschwand. Es war nicht so, dass Tony gesehen hätte, wie er davon eilte.
Er verschwand einfach.
Tony legte der noch immer aufgewühlten Sue die Hand auf den Arm und machte
einen Schritt in Richtung Tür, als Etienne den Kopf herein steckte. „Was ist
denn los?“
„Jan wollte wissen, wo Thomas ist. Er ist vor - ich weiß nicht - vielleicht
zehn Minuten rausgegangen. Er wollte irgendwas einkaufen. Für den Nachtisch.“
Etienne wusste
ebenso wie Jan, dass es nur ein Geschäft gab, in dem Thomas kurz vor
Mitternacht noch etwas bekommen würde. Das fröhliche Klingeln der Türglocke
wirkte makaber, als er, gefolgt von Lukas, den kleinen Laden betrat. Jan hockte
auf dem Boden neben der Kassentheke und beugte sich über einen blutüberströmten
Körper.
Sie hatten beide sofort geahnt, dass etwas Dramatisches geschehen sein musste,
als ihr Freund mitten im Wort verstummte und so schnell, wie nur ein
Bluttrinker es vermochte, aus der Wohnung stürmte.
Lukas entspannte sich, als er zwischen all dem Blut und der undefinierbaren
grauen Masse schwarzes Haar erkannte. Der zerschmetterte Schädel gehörte
jedenfalls nicht Jans Gefährten! Erst dann traf ihn die betäubende Duftwolke.
Das Blut eines Sterblichen, der zweifellos tot war.
„Jan!“ Etienne
packte den Freund an den Schultern und zog ihn zu sich herum. Jans Augen
blickten sonderbar leer.
„Da hinten sind ein paar Blutspritzer“, sagte er tonlos. „Er ist nicht da, aber
er war hier. Es ist sein Blut. - Etienne, ich kann ihn nicht spüren. Von einer
Sekunde zur nächsten, ist er einfach nicht mehr da!“
Lukas eilte in
den hinteren Gang. Thomas war ihm vertraut genug, um selbst kleinste Spuren
seiner Anwesenheit auszumachen. Der Gefährte hatte sich hier aufgehalten, hatte
einige der Tütchen in den Regalen berührt. Zweifellos wurde er verletzt. Doch
die Blutmenge war
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