Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
schmaler Schatten fiel nun über seine Augen.
Der Ärmelkanal begrüßte uns schmucklos und braun, das Schiff schnitt rauschend eine Schneise in das Meer, als wäre es ein riesiger Pudding. Hinter einer Wand aus Nebel lag England, eine kleine Gruppe Möwen flog parallel zu unserem Deck und kreischte pflichtbewusst.
»Bin mal gespannt, wie unsere Gastfamilie ist ...«, sagte Patrick und klopfte auf einen grünen Metallklotz, in dem sich die baumdicke Ankerkette aufgerollt hatte.
»Ich auch …«, log ich, das Gastfamilienkonzept war eine Idee Herrn Jünschkes, er meinte, die Engländer kennenzulernen, Lokalkolorit zu schnüffeln und wirklich in die Kultur abzutauchen sei nur möglich, wenn man in einer Gastfamilie wohnte. Er schlief im Hotel.
Seit ich »Die Asche meiner Mutter« gelesen hatte, in dem Frank McCourt von seiner harten Kindheit in einer irischen Kleinstadt der Dreißigerjahre erzählte, hatte mein Bild Großbritanniens einen Grauschleier bekommen. Gegen das Zuhause des Jungen in dem Buch war selbst ein Schlafsack in einer Müllverbrennungsanlage ein Einrichtungstraum aus Schöner Wohnen . Ein ganzer Straßenzug teilte sich ein Plumpsklo, es regnete ganzjährig ganztägig, und die Menschen sahen aus, als würden sie sich abends in Formaldehyd einlegen. Gut, das war Irland, und die Geschichte spielte vor siebzig Jahren, aber für mein jugendliches Gehirn, das sich größtenteils aus Vorurteilen ernährte, machte das keinen großen Unterschied.
»Ich hab eigentlich gar keine Lust, zurückzugehen«, sagte Patrick und starrte auf die Nebelwand. Ich lachte. Doch dann sah ich sein Gesicht, in dem sich nichts regte, seine Augen waren erstarrt, sein Mund verengte sich zu einem Schlitz. Die Fröhlichkeit schien aus ihm gewichen wie aus einem undichten Gefäß. Ich wusste nichts zu sagen außer: »Warum?«
»Ey, guckt ma’ … wer bin ich?«, brüllte Kemal plötzlich vor uns, der schmerbäuchige Junge hatte sich an den Bug des Schiffes gestemmt, seine Beine zwischen die Gitter der Reling geklemmt und sollte wohl so etwas wie eine türkische Version von Leonardo DiCaprio darstellen.
»ISCH BIN DER KÖNIG DER WEEEELT!«, brüllte er in Richtung England, und es klang wie eine Kampfansage. Dann donnerte es aus der Nebelwand, ein Blitz zuckte über den Himmel und schlug irgendwo vor uns auf der Meeresoberfläche ein.
»Und am Ende waren sie alle tot«, sagte Patrick und spuckte lachend in die Gischt. Der Nebel schluckte nicht nur sein Spucken, sondern auch seinen verzagten Unterton. Ungewissheit lag vor uns.
Es blitzte erneut, und unsere Möweneskorte drehte um und flog zurück nach Frankreich. Neidisch blickte ich ihr nach.
Familienlotto
»Oh Scheiße, Alta, ich steig nicht aus, Herr Jünschke!«, brüllte der König der Welt durch die abgestandene Luft des Busses. Kemal hatte beim Familienlotto offensichtlich nicht den Hauptpreis abbekommen. Der war auch schon vergeben, denn eben hatten wir Hanna Sommer und ihre Freundin Mona an einem herrschaftlichen Anwesen mit Meerblick aussteigen lassen. Hinter dem Landsitz grasten sogar ein paar Pferde, die uns desinteressiert ansahen. Anscheinend gab es Menschen, die das Glück abonniert hatten, Kemal gehörte aber wohl nicht dazu. Ähnlich gleichgültig wie die Pferde zuvor blickten nämlich seine Gasteltern drein, als wir uns ihrem Haus näherten. Die bucklige Frau sah aus wie Kurt Beck im Blümchenkleid, der kleine, hagere Mann neben ihr trug eine rote Baskenkappe, eine Augenklappe und seinen Arm in einer Schlinge. Zu seinen Füßen saß ein Hund in der Größe eines Nilpferds und sabberte. Kurt Beck und Captain Hook lebten also als schwules Paar inkognito in Hastings.
»C’mon, Kemal, no discussion«, sagte Herr Jünschke noch recht sanft, selbst er hatte die Manson-Familie vor dem Fenster bereits erblickt.
»Die sehen total psycho aus, Herr Jünschke!«, motzte Kemal, während sich sein Mitbewohner Martin Siekmann seinem Schicksal bereits ergeben hatte und mit seinem Rucksack in der Hand Richtung Ausgang wankte. Kemals Urteil war hart, allerdings wirkten seine Gasteltern, wie sie da vor ihrem winzigen Reihenhaus mit sechs Quadratmeter Vorgarten standen, schon recht eigenwillig. Kemals Meckern nutzte nichts, ein paar Minuten später schlossen ihn Kurt Beck und Captain Hook in ihre Arme, und der dicke Hund schaute die neuen Bewohner an, als wären gerade zwei Säcke Pedigree geliefert worden.
»Das kann was werden«, grummelte Patrick prophetisch, während
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