Lee, Julianne
damals gegen sie, weil ihm keine andere Wahl blieb«, fuhr Robin fort. »Aber er hat sie nie mutwillig provoziert oder sonst etwas getan, was ihren Hass auf uns noch verstärkt hätte. Sowie er Laird war, behandelte er die englischen Soldaten wie schlafende Hunde. Wenn man sie in Ruhe lässt, wird man von ihnen auch nicht gebissen.«
Robins Worte ergaben durchaus einen Sinn. Tatsächlich hatte Pa sich viele Jahre lang bemüht, seine Clansleute zur Besonnenheit gegenüber den Besatzern zu ermahnen, und trotz seinem eigenen abgrundtiefem Hass auf die Engländer sah Ciaran ein, dass diese Einstellung etwas für sich hatte.
Doch Calum widersprach mit ärgerlicher Stimme: »Und was hat ihm das gebracht? Die Brennerei wird immer noch illegal betrieben, und wenn die Sassunaich sie entdecken, wird sie entweder beschlagnahmt, oder der Clan muss ein hohes Bußgeld zahlen. Genauso wollen die englischen Schweine es ja haben. Wir sind ihrer Willkür auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, und daran wird sich auch nichts ändern, solange wir am katholischen Glauben festhalten.« Er betrat den Raum und ging auf den Schreibtisch zu.
»Wenn wir den schlafenden Hund in Ruhe lassen, wird er eines
Tages von selbst erwachen und sich auf uns stürzen. Dann wird er uns die Eingeweide aus dem Leib reißen und uns blutend auf der Erde liegen lassen! Die Engländer hassen uns, weil wir Schotten und Katholiken sind. Nichts und niemand wird ihre Meinung über uns ändern. Solange wir unserem Glauben und unseren Traditionen treu bleiben, werden sie uns verfolgen und töten, und sie werden erst zufrieden sein, wenn sie unser Volk ausgerottet haben.«
Er stützte sich auf den Schreibtisch und sah Ciaran direkt ins Gesicht. »Und ich warne dich, Bruder. Wenn du dich gegen die Wünsche des Clans stellst, werden die Männer einem Laird folgen, der in ihrem Sinne handelt.«
Seine Worte trafen Ciaran mitten ins Herz. Drohte ihm von der Seite seines eigenen Bruders Verrat? In betont gebieterischem Tonfall nannte er Calum bei der englischen Version seines Namens, weil er wusste, wie sehr dieser das hasste: »Malcolm...«
Doch Calum stieß sich vom Schreibtisch ab, machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum.
Ciaran seufzte, dann murmelte er leise auf Englisch einen anderen Lieblingsspruch seines Vaters vor sich hin. »Ich bin zu alt für diesen Scheiß.« Robin kicherte in sich hinein.
Die Sonne war schon fast untergegangen, als Hufschlag auf der Zugbrücke ertönte. Ciaran stand im Burghof und gab dem Hauptmann der Burgwache einige Anweisungen, als der einsame Reiter am Torhaus vorbeipreschte, sein Pferd zügelte und aus dem Sattel sprang. Ciaran wurde das Herz schwer, als er sah, wer da gekommen war.
»Robbie!« Er rannte los, um seinen kleinen Bruder vor dem Eingang der großen Halle abzufangen. »Nein, Robbie, warte!« Dabei packte er den dünnen Arm des Jungen, woraufhin beide ins Straucheln kamen und beinahe unsanft auf dem Boden gelandet wären.
Robbie sah seinen Bruder überrascht an, dann dämmerte ihm was Ciaran ihm zu verstehen geben wollte. Mit seinen fünfzehn Jahren war er bereits sehr groß, und sein Körperbau verriet, dass er zu einem kräftigen, muskulösen Mann heranwachsen würde doch in diesem Moment wirkte er wie ein kleines Kind. Die gesunde Farbe wich aus seinen Wangen, und seine Stimme glich einem erstickten Quieken, als er fragte: »Pa?«
Ciaran nickte. »Gestern.«
Robbie holte tief Atem, sichtlich bemüht, sich männlich und gefasst zu geben, obwohl er die aufsteigenden Tränen kaum zu unterdrücken vermochte. »Ich bin gekommen, so schnell ich konnte, ohne das Pferd dabei umzubringen. Aber die Wege sind so schlecht, und da...«
»Ich weiß, Rob. Du brauchst dich nicht...«
»Wo ist Mutter?« Robbie blickte sich suchend um. »Ich muss sofort zu ihr. Sie wird mich brauchen.«
Ciaran hielt ihn erneut fest. »Nein, Robbie. Es tut mir Leid.«
Jetzt verstand der Junge die Welt nicht mehr. Stirnrunzelnd sah er Ciaran an, dann traf ihn die furchtbare Erkenntnis wie ein Schlag. Seine Unterlippe begann zu zittern. »Mutter? Nein, nicht auch noch Mutter!«
»Sie ist heute Morgen gestorben. Wir haben sie neben Pa begraben.«
Jetzt war es mit Robbies Beherrschung vorbei. Die Tränen, die er so mühsam zurückgehalten hatte, rannen ihm in Strömen über die Wangen. Ciaran legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. Robbie blickte sich so verzweifelt um, als hoffe er, jemand würde ihm gleich sagen, das alles sei
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