Lee, Julianne
gegen den Stein.
Während er die Ereignisse des Tages an sich vorüberziehen ließ, kreisten seine Gedanken immer wieder um seinen Bruder. Eine Entscheidung stand an; eine Entscheidung, vor der sich Ciaran gefürchtet hatte, seit Calum dieses unselige Dokument in die Hände gefallen war. Wenn sein Bruder doch nur nicht die Waffe gegen ihn erhoben hätte! Wäre Calum so klug gewesen, die Urkunde bei einer friedlichen Versammlung des Clans vorzulegen und seinen Anspruch vorzutragen, dann würde er jetzt nicht im Torhaus sitzen und auf sein Urteil warten. Jetzt musste Ciaran entscheiden, ob er seinen Bruder hinrichten lassen sollte.
Einige Lairds hätten ihn ohne viel Federlesens am nächstbesten Baum aufgeknüpft. Verrat war ein schweres Verbrechen; eines, das das Wohlergehen des Clans ernsthaft gefährdete. Wenn er zuließ, dass Calum ungestraft davonkam, ermutigte er so indirekt andere, weitere Versuche zu unternehmen, ihn als Laird zu stürzen. Ciaran wäre ein Narr, Calum noch eine zweite Gelegenheit zu geben.
Aber musste er gleich so weit gehen, seinen Bruder zu töten?
Plötzlich ertönte die Stimme der Fee aus dem Nichts. »Dein Pa hatte es nicht getan.«
Ciaran blickte sich um und sah sie auf den Stufen unter den überhängenden Zweigen sitzen. »Was hätte er nicht getan?«
»Calum gehängt.«
Er schnaubte, winkelte ein Knie an, um den Ellbogen darauf zu stützen, und legte dann den Kopf darauf. »Natürlich nicht. Pa war sein Vater.« Wieder meldete sich der alte Schmerz. »Ich bin nur sein Halbbruder.« Noch während er es aussprach, fragte er sich, ob das überhaupt zutraf.
Eine Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit. Er blickte zu der Lücke in der Mauer, wo einst der Eingang zum broch gewesen war. Dort stand Leah und beobachtete ihn. Für Ende Juli war sie viel zu warm angezogen. Es bestand kein Grund, einen Umhang oder einen Mantel zu tragen, doch sie hatte einen dicken Schal um ihre Schultern geschlungen, als würde sie ohne ihn frieren.
Rasch arrangierte er seinen Kilt so, dass die Falten seine gespreizten Beine bedeckten, dann rief er ihr zu: »Kommt herein, Miss Hadley, aber seid auf der Hut.« Er beugte sich vor, hob eine Augenbraue und warnte, während er sich vielsagend im broch umblickte: »Hier hausen wilde Schotten, Feen und Elfen. Dieser Ort gilt als verwunschen, müsst Ihr wissen.«
Bei dem Wort >verwunschen < flog ein seltsamer Ausdruck über ihr Gesicht, doch dann lächelte sie. »Ich wünschte, Ihr würdet mich Leah nennen.«
Ciaran überlegte kurz und kam zu dem Schluss, auf gewisse Formalitäten nur zu gerne zu verzichten, auch wenn er die Tochter eines Rotrocks vor sich hatte. »Gerne, Leah.«
Trotzdem schlug sie einen förmlichen Ton an, als sie einen Schritt in das Turminnere hineintrat, aber nicht weiter. »Ich wollte Euch nur sagen, wie Leid es mir tut, was heute geschehen ist. Was Euer Bruder getan hat, war unentschuldbar.«
Darauf gab es nichts zu sagen, denn ihr Mitgefühl änderte nichts an der Situation. Ciaran nickte nur. »Ich danke Euch.« Warum sie ihm bis hierher gefolgt war, nur um ihm das zu sagen, blieb ihm ein Rätsel.
Sie schien sich unbehaglich zu fühlen, wie sie so an der Mauer-
lücke stand, also deutete er einladend auf die Stufen. »Habt Ihr den Mut, in das Territorium der Feen einzudringen und Euch zu setzen?«
Leah kam näher und arrangierte ihre Reifröcke geschickt um sich, nachdem sie Platz genommen hatte. Ciaran sah ihr wie gebannt zu. Ihre Anmut und Schönheit faszinierten ihn, obgleich sie sich dessen nur allzu bewusst zu sein schien. Ihr kastanienbraunes Haar schimmerte im Licht der untergehenden Sonne, ihre Augen leuchteten.
Sowie sie es sich bequem gemacht hatte, sah sie sich im broch um. »Glaubt Ihr denn an Feen?«
Ciaran warf einen verstohlenen Blick zu der Stelle unter den Zweigen hinüber, wo Sinann eben noch gesessen hatte, ehe er erwiderte: »Aye, das tue ich. Von ganzem Herzen.« Er musste lächeln, als sie ihn aus großen Augen ansah. »Ich glaube auch an den Geist des weißen Hundes, obwohl ich ihn nie gesehen habe -worüber ich allerdings nicht traurig bin, denn das gilt als böses Omen.«
Sie lächelte, doch er las eine Spur von Herablassung in ihren Augen. »Wie abergläubisch Ihr seid.«
Einen Moment lang wurde er von dem überwältigenden Drang beherrscht, einen Grashalm abzupflücken und sie aufzufordern, darauf zu beißen, doch er bezwang sich. Am Ende würde man ihn noch beschuldigen, hier ein heidnisches Opfer
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