Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
sie ins Luftschiff und wieder hinaus geschleust, als wäre das gar nichts. Es ist fast, als hätte er, was Tarnung betrifft, regelrechte Superkräfte.«
»Vielleicht hat er die ja auch«, erwidert Metias. »Schließlich unterstützen ihn ja sogar die Kolonien, oder?«
»Stimmt.« Frustriert fahre ich mir mit der Hand durchs Haar. In diesem Traumzustand sind meine Finger taub und ich spüre die Strähnen nicht auf meiner Haut. »Das ergibt doch alles gar keinen Sinn. Sie hätten den Mordplan abblasen müssen. Razor hätte ihn nicht durchziehen dürfen, nicht, nachdem ich quergeschossen hatte. Sie hätten in ihr Hauptquartier zurückkehren, sich beraten und dann einen neuen Versuch starten müssen. Vielleicht in ein, zwei Monaten. Warum hätte Razor riskieren sollen, dass er seinen Posten verliert, wenn der Mordplan gescheitert wäre?«
Metias sieht einem vorbeirennenden Republiksoldaten nach. Der Soldat hebt den Kopf und salutiert vor Razor.
»Wenn die Kolonien hinter den Patrioten stehen«, sagt mein Bruder schließlich, »und sie wissen, wer Day ist, hättet ihr dann nicht sofort zu der Person gebracht werden müssen, die für die Zusammenarbeit verantwortlich ist?«
Ich zucke mit den Schultern. Ich denke an die Zeit, die ich mit Anden verbracht habe. Seine radikalen Gesetzesänderungen, seine völlig neue Denkweise. Dann fallen mir seine Meinungsverschiedenheiten mit dem Kongress und den Senatoren ein.
Und in diesem Moment endet mein Traum. Meine Augen öffnen sich. Ich habe herausgefunden, was mit Razor nicht stimmt.
Die Kolonien unterstützen Razor nicht – die Kolonien haben nicht die leiseste Ahnung von dem, was die Patrioten vorhatten. Darum konnte Razor den Plan rücksichtslos durchziehen. Natürlich hatte er keine Angst, dass die Republik ihn als Patrioten entlarven könnte.
Die Republik selbst hat Razor angeheuert, um Anden zu ermorden.
DAY
Nachdem die Soldatin und ich der Menschenmenge den Rücken gekehrt und den Balkon verlassen hatten, fragte ich sie als Erstes, ob eine Wache vor unserer Tür postiert ist (»Natürlich, wir wollen schließlich nicht, dass irgendwelche Fans hier hereinplatzen«, antwortete sie im Gehen), und bat um ein paar zusätzliche Decken und Medikamente für June. Ich wollte nicht mehr aufstehen und sehen, dass Kaede womöglich immer noch unten vor dem Balkon stand. Nach und nach wurde das Geschrei draußen vor dem Gebäude leiser und nach einer Weile war alles still.
Jetzt sind wir völlig allein, bis auf die Wachposten vor unserer Tür.
Alles ist für unseren Aufbruch vorbereitet, aber ich sitze reglos an Junes Bett. Hier drinnen gibt es nichts, was ich als Waffe benutzen könnte, also bleibt uns nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass wir mit niemandem kämpfen müssen, wenn wir heute Nacht wirklich einen Fluchtversuch wagen. Dass unsere Abwesenheit bis zum nächsten Morgen niemandem auffällt.
Ich stehe auf und trete an die Balkontür. Der Schnee unten auf dem Rasen ist komplett zu Matsch zertreten und vom Dreck unzähliger Stiefelpaare dunkel verfärbt. Kaede ist natürlich nicht mehr da. Ich starre eine Weile in die Kolonien hinaus und grübele wieder über ihr Plakat nach.
Warum sollte Kaede wollen, dass ich in die Republik zurückkomme? Will sie mich in eine Falle locken oder mich warnen? Andererseits, wenn sie uns wirklich feindlich gesinnt wäre, warum hätte sie dann in Pierra Baxter niederschlagen und uns zur Flucht verhelfen sollen? Sie hat uns sogar gedrängt zu fliehen, bevor die anderen Patrioten uns erwischten. Ich setze mich wieder zu June, die immer noch schläft. Ihre Atemzüge sind jetzt gleichmäßiger und die Röte ihrer Wangen nicht mehr ganz so aggressiv wie noch vor ein paar Stunden. Trotzdem traue ich mich nicht, sie zu wecken.
Die Minuten verrinnen. Ich werde einfach abwarten, ob Kaede sich noch mal blicken lässt. Nach dem schwindelerregenden Tempo, mit dem die Ereignisse in den letzten Wochen über uns hereingebrochen sind, bin ich es nicht mehr gewohnt, nichts zu tun zu haben. Plötzlich scheine ich viel zu viel Zeit zu haben.
Ein dumpfer Schlag dringt von der Balkontür herüber. Mit einem Satz bin ich auf den Füßen. Vielleicht ist ein Ast von einem Baum abgebrochen oder ein Steinchen vom Dach gefallen. Ich warte ab, bleibe wachsam. Eine Weile passiert nichts. Dann ein weiterer Schlag gegen die Scheibe.
Ich schleiche zur Balkontür und spähe hinaus. Niemand zu sehen. Mein Blick wandert über den Boden des Balkons. Dort
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