Lehmann, Christine
holte eine meiner mottenlöchrigen Wolldecken von vor dem Krieg, breitete sie über ihm aus, löschte das Licht und zog mich mit dem Laptop in mein Schlafzimmer zurück. Ich wus s te zu viel nicht über Jugendämter, Kinderheime und Berei t schaftspflegefamilien. Zwischen Mitternacht und Mo r gengrauen stieß ich auf den Fall Tilo und Lea Leide n frost, der in der Öffentlichkeit der sinnlichen Medien – Zeitung, Radio, Fernsehen – so gut wie keine Rolle g e spielt, dafür aber in Foren unter Titeln wie »Kinder kla u behörde« gischtige Wellen geschlagen hatte.
8
Die Sache hatte sich im Raitelsberg abgespielt, dem A r beiterquartier, aus dem auch Nina Habergeiß mit ihren Kindern stammte. Nach dem siebten Kind hatte Lea Le i denfrost die Ehrenpatenschaft des Bundespräsidenten beantragt. Als die kleine Evelyn schon gut ein Jahr alt und Lea mit dem achten Kind schwanger war, wurde die Familie zum Festakt ins Rathaus geladen, wo ihr die S o zialbürgermeisterin im Zuge der Kampagne »Kinderstadt Stuttgart« die Urkunde und 500 Euro als Patengeschenk überreichte. Eine Woche später war ein Beamter des J u gendamts bei den Leidenfrosts erschienen. Zunächst zu Kaffee und Kuchen. Dabei hatte der sechsjährige Florian mit dem Vater herumge bubelt und Töten gespielt. Das hatte den Beamten irritiert. Bei einem zweiten Besuch bat er darum, ein bisschen alleine mit den drei anwese n den Kindern zu spielen, darunter Florian. Es sei ein sel t sames Spiel gewesen, erzählten die Kinder hinterher. Der Mann habe sie gefragt, ob sie geschlagen würden. Der Beamte mahnte ein Einzelzimmer für Florian an. Der Junge leide an einem Aufmerksamkeitsdefizit. Die Eltern hatten freundlich gelächelt – woher ein Extrazimmer nehmen? – und es nicht so ernst genommen. Als Leas Niederkunft mit dem achten Kind unmittelbar bevo r stand, rückte eine Erziehungshelferin an und verlangte Umbauten, die Anschaffung eines Wäschetrockners, o b gleich die Familie einen besaß, den sie nicht nutzte, und ein Einzelzimmer für Florian. Lea und Tilo verging das Lachen. Lea bekam vorzeitige Wehen und musste liegen. Sie unterschrieben die Entbindung der Ärzte von der Schweigepflicht. Es kam ein freundlicher Herr zu B e such, der sich eine halbe Stunde mit Lea über die Fre u den der Schwangerschaft, Geburt und Säuglingspflege unterhielt. Das achte Kind kam auf die Welt, etwas zu früh, Tilo blieb eine Woche zu Hause, nach drei Tagen holte er Lea aus der Klinik. Das Kind sollte noch ein paar Tage im Brutkasten ble i ben, Lea fuhr dreimal pro Tag hin zum Milchabpumpen. Am Montag, während die Kinder in der Schule waren, wollte sie es dann endlich heimholen. Tilo ging arbeiten. Aber er saß noch keine Stunde in der Ve r kaufsstelle des Autohauses in der N e ckarstraße, da kam ein Alarmanruf seiner Frau: »Hilfe! Die vom Jugendamt sind im Krankenhaus. Sie wollen die Kleine mitne h men.« Tilo setzte sich ins Auto, doch als er im Kranke n haus ankam, fand er nur noch seine Frau vor, in Tränen aufgelöst. Das Neugeborene war weg. Zu Hause erwart e ten sie bereits zwei Frauen und ein Mann vom Jugen d amt. Sie sackten ein Kind nach dem andern ein, sowie es aus der Schule kam. Die beiden, die noch in den Kinde r garten gingen, waren bereits dort abgeholt wo r den. Drei Stunden später hatten Lea und Tilo all ihre Kinder verl o ren. Wo sie sich befa n den, erfuhren sie nicht, weder an diesem Tag noch in den folgenden Wochen und Mon a ten. Erstmals aber bekamen sie ein Gutachten des freun d lichen Herrn und des Beamten zu G e sicht, die sie besucht hatten. Darin war die Rede von Gewaltausbrüchen der gestressten Mutter und bedenkl i cher Aggressivität des Sohnes Florian. Die Eltern kön n ten den Kindern nicht die nötige Zuwendung geben, die Kinder müssten sich Dinge untereinander beibringen. Und dann das Todesu r teil für die Mutter: Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom .
Ja, zum Teufel!
Diese Mütter, las ich im Gruselkabinett der Psychia t rie, seien in ihrer Kindheit meist selbst misshandelt wo r den und richteten ihre Aggressionen nicht gegen sich selbst, sondern gegen ihre Kinder. Sie seien eher intell i gent, sehnten sich nach Aufmerksamkeit, wüssten aber nicht, wie sie Beziehungen zu ihren Mitmenschen knüpfen sol l ten, fühlten sich isoliert und einsam. Mit einem kranken Kind ändere sich für sie alles. Plötzlich fänden sie Ane r kennung, ihre Aufopferung werde bewundert, sie gälten als gute Mütter. Das beflügle die
Weitere Kostenlose Bücher