Lehmann, Christine
eine junge Frau mit Kinderwagen entgege n gekommen? Gleich zu Anfang, kurz nachdem Cipión den Schnuller gefunden hatte. Hast du eigentlich ein Baby in dem Kinderwagen gesehen?«
Richard schaute mich konsterniert an.
»Ich nicht. Nur Decken und Kissen.«
»Hm.«
»Es würde erklären, warum der Kinderwagen fehlt. Und warum es bisher keine Vermisstenanzeige gibt.«
»Es erklärt aber nicht, warum Sonja Depper mich g e gen zwölf Uhr angerufen und erklärt hat, sie habe eine Dummheit gemacht«, wandte er ein. »Es ist nicht plaus i bel, dass die Mutter noch zwei bis drei Stunden nach Verlust oder Aussetzung ihres Säuglings mit leerem Ki n derwagen durch den Wald läuft.«
Auf meiner sprungfederreichen alten Couch versuchte er eine stabile Position in der Ecke von Rückenlehne und Seitenstütze zu finden, ohne der schlafenden Alena dabei seinen Zeigefinger zu entreißen.
»Oder Sonja Depper hat das Kind aus dem Kinderw a gen geklaut!«, schlug ich vor.
»Und die junge Mutter hat es bis jetzt noch nicht g e merkt? Nein, Lisa! Außerdem, warum sollte Sonja De p per einen Säugling klauen!«
»Weil sie keine realistische Aussicht auf ein Adopti v kind hat.«
Richard schüttelte den Kopf. »Ziemlich extrem, fi n dest du nicht? Ich meine, Frauen, die so was machen, sind …« Er blickte mich zweifelnd an.
»Äffinnen oder psychisch krank«, vollendete ich. »Durchaus möglich, findest du nicht? Immerhin sind der Frau zwei Kinder am plötzlichen Kindstod gestorben. Da probiert man es nicht ein drittes Mal. Den Stress hält ke i ner aus. Also geht nur noch Adoption. Und Depper war es irrsinnig wichtig, Kinder zu haben. Damit man sie für eine leistungswillige und -fähige Frau hält. Also ich fi n de, so ein Konzept liegt bereits im Grenzbereich zum Ir r sinn. Ganz abgesehen davon, dass es Irrsinn ist, Kinder zu wollen! Da haben wir uns vor fünfzig Jahren emanz i piert von der teuflischen Verquickung von Sex und Fortpfla n zung, und was machen diese Deppinnen? Sie beg e ben sich zurück in die Sklaverei der Eierstöcke!«
Richard lächelte gezwungen. »Und was, wenn der T o ten das Kind tatsächlich nachträglich untergeschoben wurde, beispielsweise von der jungen Frau mit dem auge n scheinlich leeren Kinderwagen, der wir begegnet sind?«
»Nein«, konnte ich mit Bestimmtheit sagen, »ich musste einen Zipfel der Decke unter dem Leichnam he r vorziehen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass eine jugendliche Mutter, die eine Tote findet und beschließt, ihr das Schreibaby unterzuschieben, so besonnen ist, e i nen Zipfel unter die Leiche zu stopfen, damit es so au s sieht, als sei das Baby zusammen mit der Toten gefa l len.«
Das konnte er sich auch nicht vorstellen. Vorsichtig wegen des schlafenden Balgs auf seiner Brust trat R i chard die Schuhe von den Füßen und schwang ein Bein nach dem anderen auf das Sofa.
»Aber Depper könnte der jungen Mutter das Baby a b genommen haben«, überlegte ich. »Gar nicht mal in der Absicht, es zu entwenden, sondern im Gespräch. W o möglich hat die junge Frau über Last und Leid geklagt, von Tötungsabsichten gesprochen, was weiß ich. Depper könnte zu der Überzeugung gelangt sein, sie müsse das Kind unverzüglich in Obhut nehmen. Es kam zu einem Handgemenge, Depper stürzte …«
»Dann hätte sie mich nicht mehr anrufen können, vo r geblich, weil sie eine Dummheit begangen habe.«
»Was hättest du eigen tl ich gemacht«, fragte ich, »wenn Depper dir die Kleine präsentiert und dazu erklärt hätte: Die habe ich gerade geklaut. Ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist. Bitte helfen Sie mir!«
»Keine Ahnung.«
Ich lachte. »Das glaube ich dir nicht.«
»Das ist eine sehr hypothetische Frage, Lisa. Vermu t lich hätte ich ihr nahegelegt, zur Polizei zu gehen und unverzüglich eine Fahndung nach der Mutter auszul ö sen.« Er unterdrückte ein Gähnen, denn er konnte sich nicht die Hand vor den Mund halten, weil die süße Krott in seinem einen Arm lag und den Finger der anderen Hand umklammert hielt. Rührend!
»Mehr wäre dir nicht eingefallen, um deinem Schüt z ling zu helfen?«
»Sie war nicht mein Schützling!« Ein neuerliches Gähnen, das er zu unterdrücken versuchte, sprengte R i chard fast den Kiefer.
»Aber warum ruft sie dich an? Warum kutschierst du sie herum, zum Beispiel nach Hause? Wo wohnte sie e i gentlich?«
Keine Antwort.
»Richard?«
Er hatte die Augen geschlossen. Er schlief.
Ja, es war ein aufregender Tag gewesen! Ich
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