Lehmann, Christine
Erfindungsgabe, Kinder arztreif zu machen: Salzwasser, Säure, ein Schlag mit dem Hammer auf einen Knöchel, würgen, vergiften, mit Psychopharmaka füttern, ihnen einbläuen, was sie beim Arzt zu sagen hätten, sofortiger Arztwechsel, wenn G e fahr bestand, dass man ihr draufkam. Zehn Prozent der malträtierten Kinder blieben auf der Strecke, oder fünf Prozent oder dreißig. Die Zahlen divergierten.
Mich schauderte. Was für eine Idee! Und von derart bestrickender innerer Logik, geradezu bezwingend, no t wendig und unausweichlich. Haben wir es nicht insg e heim immer gewusst? Etwas war falsch an der Aufopf e rung unserer Mütter. Die Hühnerbrühe, die sie uns am Kra n kenbett löffelweise einflößten, war vergiftet. Das Pflaster auf dem blutigen Knie löste erst die Blutvergi f tung aus, das »heile, heile, Segen!« war eine feierliche Drohung. Werd du mir nur gesund! Ja, sorgende Mütter, die waren gestern, heute studierten sie die Apotheke n rundschau und kontrollierten die Krankheiten ihrer Ki n der.
Erfunden hatte das Syndrom in den siebziger Jahren ein britischer Kinderarzt namens Roy Meadow. Seine Gutachten brachten in England einige hundert Frauen ins Gefängnis, darunter eine Rechtsanwältin, deren beide Kinder hintereinander den plötzlichen Kindstod gesto r ben waren. Die Wahrscheinlichkeit, dass es eine Mutter zweimal traf, hatte Meadow mit 1 zu 73 Millionen ang e geben. Die Rechtsanwältin wurde wegen Mordes zu l e benslanger Haft verurteilt. Dann beschwerten sich M a thematiker über einen Fehler in der Wahrscheinlichkeit s rechnung, und fast 300 Fälle, in denen Meadow gegu tac h tet hatte, mussten neu aufgerollt und etliche Frauen fre i gelassen werden. Ein Medizinskandal? Nein. Einige Ja h re später wurde Meadow rehabilitiert und geadelt.
Bis heute galt das Münchhausen-Stellvertreter- Syndrom als selten. Gerade mal einige hundert Fälle w a ren seit den Siebzigern weltweit dokumentiert. Der Würzburger G e richtspsychiater Krupinski schätzte, dass von einer Mill i on Kindern zwei bis vier von ihren Mü t tern künstlich krank gemacht wurden. Ich rechnete: Das wären bei u n gefähr 15 Millionen Kindern in Deutschland 30 bis 60 Kinder. Der Professor glaubte es jedoch selbst nicht – die innere Logik oder die tiefe Furcht vor der Müttermacht war zu gewaltig – und hatte eine Studie a n gestrengt, der zufolge in den letzten elf Jahren in rund 190 Kliniken 91 ges i cherte Fälle von Müttern nachg e wiesen werden konnten, die ihre Kinder absichtlich krank gemacht hatten. Auße r dem habe es 99 ernsthafte Verdachtsfälle g e geben. Eine seltene Störung, aber nicht so selten wie g e dacht, meinte der Gerichtspsychiater.
Und ich kannte schon eine Mutter mit dieser Diagnose persönlich und eine zweite lebte nur ein paar Kilometer von mir entfernt. Konnte das sein? Der Verdacht b e schlich mich, dass Kinderärzte, Psychiater und Jugen d beamte der bezwingenden inneren Logik des Horrorbi l des von der Müttermacht reihenweise erlagen. Vielleicht li t ten sie am Helfersyndrom: sich die Kinder schaffen, die man vor Müttern retten musste.
Schon nach ein paar Klicks purzelten mir aus dem Netz rund ein Dutzend Diagnosen von Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom entgegen, die als Begründung für eine vorsorgliche Inobhutnahme von Kindern gedient hatten. Ein Beweis hatte nie geführt werden können. In deutschen Krankenhäusern war die heimliche Kamer a überwachung von Müttern an den Krankenbetten ihrer Kinder verboten. Folglich behalf man sich mit Ve r dachtsmomenten und raschem Handeln.
In Niedersachsen hatte ein Arzt bei der Untersuchung eines Jungen Atemnot und rote Stellen am Hals festg e stellt. Hatte die Mutter den Jungen gewürgt? Das J u gendamt nahm ihr das Kind weg. In Bamberg war eine Mutter mit ihrem Sohn wegen Borreliose mehrmals zum Arzt gegangen. Unklare, herumwabernde Infektionssy m p tome. Half die Mutter mit Gift nach? Auch sie war den Jungen jetzt los. Im Münsterland hatte eine Mutter gleich alle acht Kinder ans Jugendamt verloren. Zu viele Kn o che n brüche, ein Atemstillstand nach Badeunfall. Hatte sie nachgeholfen? In Erfurt hatte es eine türkische Fam i lie und ihre drei Kinder getroffen. Wegen epileptischer Anfälle war sie ständig mit dem Ältesten beim Arzt g e wesen. Hatte sie die erfunden? In Mecklenburg hatte die Nahrungsmittelunverträglichkeit eines Kindes die Mutter in Erklärungsnot gebracht. Auch ihr Kind befand sich nun in Obhut einer Pflegefamilie. In
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