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Lehmann, Christine

Lehmann, Christine

Titel: Lehmann, Christine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mit Teufelsg'walt
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türlich ohne dass er das Opfer bringen müsste, sich mis s handeln zu lassen, damit er sich geliebt fühlen darf. Fr ü her hat man solche Kinder gänzlich von ihren Eltern g e trennt. Heute weiß man, dass das verkehrt ist. Aus O p fern werden später Täter, wenn sie ihr Trauma nicht au f arbeiten. Deshalb müssen sie aus ihrer Opferrolle herau s finden, sie müssen sich als stark erfahren, auch ihren E l tern gegenüber. Und dafür ist der Kontakt mit dem Vater unumgänglich. Einmal im Monat darf der Junge seinen Vater für eine Stunde sehen. Inzwischen auch schon, o h ne dass jemand von uns dabei ist.«
    Mir graute.
    »Er muss Vertrauen zu seinem Vater fassen, Vertrauen zu sich selbst, dass er nein sagen kann, ohne Angst zu haben, dass sein Vater böse wird und er ihn verliert. Es ist ein äußerst komplizierter Prozess. Wir arbeiten natü r lich auch mit dem Vater.«
    Ich gab einen unverständigen Laut von mir.
    »Rund 800 Kinder werden jedes Jahr allein im Gro ß raum Stuttgart Opfer von Misshandlungen durch ihre E l tern. Eine erschreckende Zahl, nicht wahr? Und kaum ein Kind findet selbst den Weg zum Jugendamt. Sie wo l len ihre Eltern nicht verraten, sie wollen sie nicht verli e ren. Kinder nehmen irrsinnig viel in Kauf, nur um in e i ner äußerlich normalen Familie zu leben. Wenn wir schließlich eingreifen müssen, dann ziehen wir uns of t mals den Zorn der Öffentlichkeit zu. Weil die Familie doch so intakt wirkt. Und weil die Kinder nicht wegwo l len. Amtl i cher Kindsraub heißt es dann schnell. Ah, da ist mein Mann.«
    Ein vegetarisch ausgemergelter Mittdreißiger in Jeans und Wetterjacke kam mit großen Schritten über die Wi e se, er rannte fast. Ambrosius Baphomet hatte ein knoch i ges, noch sommerlich braungebranntes Gesicht mit he l len Augen, kurzes Haar, das wie Metall glänzte vor Gesun d heit, und einen breiten Mund, der, wie es schien, allezeit bereit war zu lachen. Sein Händedruck war fest und warm.
    »Das ist …«, versuchte Rosalinde mich vorzustellen, »ich habe vorhin Ihren Namen nicht richtig verstanden …«
    »Schwabenreporterin Lisa Nerz«, sagte ich.
    »Hast du mit der Zeitung telefoniert, Ambrosius? Die Dame« – so schwer war mein Name doch nun wirklich nicht zu verstehen! – »sagt, die Redaktion hätte hier a n gerufen. Sie wollen eine Reportage machen für …« Auch das hatte sie nicht behalten.
    »Für die Sonntagsbeilage des Stuttgarter Anzeigers .«
    Ambrosius Baphomet konservierte sein Lächeln in Es sig. »Was ist der Anlass, wenn ich fragen darf?«
    »Das Europäische Jahr zur Förderung von Kreativität, Kultur und Bildung.«
    »Was es nicht alles gibt! Wenn wir nur auch etwas d a von spüren würden. Aber die öffentlichen Gelder sind knapp wie eh und je. Und in Zeiten der Wirtschaftskrise fließen auch die Spenden aus der Wirtschaft nur noch spärlich.«
    Ein Fußball rollte mir gegen den Knöchel. Der kleine grüne Zwerg, der von seinem Vater so schwer missha n delt worden war und sich trotzdem nach ihm sehnte, kam herbeigerannt, stoppte aber in einigen Metern Entfernung und blickte uns an. Eigentlich mich.
    Ich brauchte länger, bis ich ihn erkannte. Mein Ge sic h tergedächtnis für fünfjährige Buben war ziemlich grob gerastert. Und ich hatte nicht damit gerechnet, T o bias Vlora hier zu begegnen.
    Ambrosius lächelte kindgemäß und kickte den Ball zu dem kleinen Jungen zurück. Doch der ließ ihn an sich vorbeirollen und kam langsam auf mich zu. O Gott! Wenn er mich jetzt entlarvte! Und wenn schon, dachte ich plötzlich grimmig. Was für einen Schafscheiß hatte mir diese Rosalinde da eben erzählt? Von bösen Vätern, misshandelten Jungs und weisen Waisenhausmüttern.
    »Holst du mich jetzt ab?«, fragte Tobias.
    Auf Rosalindes Gesicht tat sich nichts außer mutte r sü ßer Gefühligkeit, doch Ambrosius wurde schattig. »Ke n nen Sie den Jungen?«
    »Ich bin doch der Tobias!«, rief der Junge.
    »Das ist Tobias«, sagte ich und lächelte Ambrosius erwachsenenschlau an.
    Er runzelte die Stirn.
    Ich ging in die Hocke und schaute dem ernsten Jungen ins Gesicht. »Ich kann dich jetzt nicht mitnehmen, Tob i as«, sagte ich. »Du kannst hier mit dem Fußball spielen. Das ist doch sehr schön.«
    Auf dem Bubengesicht formte sich Ratlosigkeit, dann Enttäuschung.
    Ich richtete mich schnell wieder auf und strahlte das Ehepaar Baphomet an wie jemand, der an einem Kinde r verarschungsspiel teilnahm, bei dem am Ende ein Kind weinend zurückblieb.
    Rosalinde hatte

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