Lehmann, Christine
inzwischen eine Erzieherin herang e winkt. Sie fasste Tobias bei der Hand, erklärte, dass die anderen auf ihn warteten, er müsse doch noch ein Tor schießen wie Beckham, und zog ihn fort.
»Fragt er das jeden, der hier zu Besuch kommt?«, e r kundigte ich mich.
Rosalinde schüttelte den Kopf. »Er ist sonst sehr z u rückhaltend. Er vertraut niemandem. Er zerkratzt sich die Hände. Deshalb haben wir ihn noch nicht in einer Pfleg e familie.«
»Kommen Sie doch bitte mal mit, Frau Nerz«, unte r brach Ambrosius seine Frau mit lauter Stimme. Sie l ä chelte dünnfaltig und etwas orientierungslos. Erst auf der Tre p pe zum Büro richtete Ambrosius wieder das Wort an mich. »Ich frage Sie noch mal, Frau Nerz: Kennen Sie den Ju n gen?«
»Es klingt, als wäre es ein Verbrechen.«
Er blieb auf der Treppe stehen, zwei Stufen über mir. »Sie müssen das verstehen. Es gibt immer wieder Leute – Eltern, Verwandte, Anwälte –, die sich unter Vorspieg e lung eines allgemeinen Interesses an unserer Arbeit Z u tritt verschaffen, um ein einzelnes Kind ausfindig zu m a chen.«
Ich rückte die zwei Stufen zu ihm auf. »Sich um den Verbleib eines Kindes zu kümmern ist an sich ja noch kein Verbrechen. Im Gegenteil.«
Der Mann lachte hart. »Sie haben keine Vorstellung, Frau Nerz, worum es hier geht. Solche Eltern bewegen viele Gründe, aber echte Sorge um ihre Kinder ist selten darunter. Geschweige denn, dass ihnen das Wohl ihres Kindes wirklich am Herzen läge. Die Eltern, mit deren Kindern wir es zu tun haben, handeln einzig und allein aus der Überzeugung heraus, dass ihr Kind ihnen gehört und dass es niemanden was angeht, was sie mit ihm ma chen. Sie handeln aus einem falschen Besitzdenken he r aus, aus gekränktem Stolz.«
»Ist schon mal einer mit einer Waffe aufgetaucht?«, fragte ich, ganz sensationslüsterne Journalistin.
Ambrosius entspannte sich etwas und setzte seinen Weg hinauf fort. »Zum Glück noch nicht.«
»In Berlin, wo wir herkommen«, sagte Rosalinde le i se, »da haben wir Morddrohungen bekommen, es hat A n schläge auf unser Haus gegeben, Steinwürfe. Eine richt i ge Treibjagd war das.«
»Warum das denn?«, fragte ich.
»Man hätte die drei Kinder aus der Familie nehmen müssen. Die Mutter war hoffnungslos überfordert, aber der Vater hat das nicht akzeptieren wollen. Muslime h a ben ein anderes Verständnis von Familie als wir Deu t sche. Auf einmal ging das Geschrei, wir seien ausländerfein d lich. Man müsse den anderen Kulturkreis respekti e ren. Aber ich sage, Menschenrechte sind unteilbar, und dazu gehört auch das Recht der Kinder auf …«
»Rosalinde«, sagte Ambrosius mahnend.
»Leider sind wir oft ohnmächtig und hilflos!« Ihr Blick wütete direkt in meine Augen hinein. »Sie haben bestimmt von dem Fall gehört. Das Fernsehen hat groß darüber berichtet.«
Ich erinnerte mich schlagartig an die Bilder, die solche Fälle begleiteten, der Garten, die Schaukel, das Haus mit den geschlossenen Fensterläden, die Nachbarn, die von den Kameras zu Experten erhoben wurden und kop f schüttelnd bezeugten, die Mutter habe ganz normal g e wirkt, die Kinder seien fröhlich und höflich gewesen und immer warm genug angezogen. Sie könnten sich gar nicht erklären, was die Frau zu so einer Bluttat getrieben habe.
»Ein paranoider Schub«, raunte Rosalinde, und de n noch hallte es wider in dem Gemäuer des Treppenhauses. »Sie habe geglaubt, sie müsse die Kinder vor dem Scha i tan schützen. Nachher hat es geheißen, wir hätten die Mutter zu der Tat getrieben. Vor uns hätte sie ihre Kinder schützen wollen.«
»Es ist eine Gnade«, mahnte Ambrosius, »wenn wir helfen können, Rosalinde, aber einen Anspruch haben wir darauf nicht.«
Ich schaute der Frau in die Augen. Sie waren erl o schen, tot.
»Da ist wirklich alles falsch gelaufen«, sagte Ambr o sius. »Wir haben versucht, die Kinder beizeiten aus di e ser Familie zu nehmen, und zwar mit der Begründung, von der psychischen Erkrankung der Frau gehe eine erhebl i che Gefahr für die Kinder aus. Doch auf einmal hieß es, wir würden auf bloßen Verdacht hin eine unbescho l tene, noch dazu muslimische Familie zerstören. Eine Trag ö die.«
»Sie sagen immer ›wir‹«, bemerkte ich. »Entscheiden Sie denn, welche Kinder aus welchen Familien geholt werden?«
Wir hatten mittlerweile das Büro erreicht, in dem ich vorhin Rosalinde hinter dem Computer aufgestöbert ha t te. »Das entscheidet das Jugendamt«, antwortete Ambr o sius. Er
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