Lehmann, Christine
schubste mich förmlich ins Büro. Vielleicht hatte er gehofft, seine Frau werde draußen bleiben, aber sie rüc k te nach.
»Kinder erziehen ist ein 24-Stunden-Job.« Ihr Blick saugte sich in meinem Gesicht fest. »Das machen sich viele Mütter vorher nicht klar. Wir hier setzen unsere Kinder nicht vor dem Fernseher ab, wenn wir unsere R u he haben wollen. Wir schimpfen sie nicht aus, wenn sie W a rum fragen. Wie mein Mann gesagt hat, es ist eine Gn a de, dass wir helfen können. Wir tun es gern. Aber es ist anstrengend, traurig, es macht manchmal wütend. All das Leid, all das Hässliche, was Menschen einander a n tun … und so oft sind uns die Hände gebunden.«
Ich bekam allmählich die Krätze. In Sachen Tobi hatte Rosalinde eindeutig das Blaue vom Himmel herunterg e logen.
»Ich hätte da noch ein paar Fragen zur wirtschaftl i chen Seite«, wandte ich mich an den Hausherrn. »Im A n schlagkasten am Tor habe ich gesehen, dass Sie auch Elternberatung, eine Klärungsstelle und Familienther a pien anbieten. Gehört das zu den Aufgaben eines Wai se n ha u ses?«
»Wir nennen uns nicht Waisenhaus«, antwortete Am b rosius . »Das stigmatisiert die Kinder. Kennen Sie Charles Dickens, Oliver Twist ? Daran denken wir doch alle – zumindest meine Generation –, wenn wir Waise n haus hören. Und viele Kinder hier haben ja ihre Eltern noch. Unser Haus ist eine Drehscheibe, ein Stellwerk, oder nennen Sie es Sprungschanze. Unsere Kinder ko m men von wo her, sind eine Weile hier, hängen eine Weile in der Luft, drehen sich um sich selbst, orientieren sich. Und dann sind sie wieder fort, auf dem Weg in ein freies und selbstbestimmtes Leben.«
Rosalinde nickte.
»Ist es nicht Zeit für die Vorlesestunde, Rosalinde?«
»Ah! Sie entschuldigen mich, Frau …«
»Nerz.« Ich drückte die glasigen Knochen ihrer Hand. Sie ging mit über den mageren Po streichender Zop f quaste zur Tür hinaus.
»Reden wir Klartext, Herr Baphomet«, sagte ich. »Üb rigens ein sonderbarer Name.«
»Südfranzösisch. Es ist der Name des Götzen, den die Tempelritter verehrt haben sollen. Er gilt aber auch als einer der vielen Namen, die man dem Teufel gibt.«
»Na, das passt ja! Herr Baphomet, Sie haben Macht über mehr als vierhundert Kinder …«
»So würde ich das nicht ausdrücken.«
»Ich recherchiere in Sachen Jugendamt und Inobhu t nahme von Kindern. Und ich kann Ihnen jetzt schon s a gen, da kommen Sie und Ihr Sonnennest nicht gut weg. Ihre Frau agitiert gegen die Beschneidung von Mädchen. Bei dem Fall in Berlin ging es nicht darum, dass die Mu t ter überfordert war oder psychisch krank, sondern darum zu verhindern, dass ein Mädchen aus der Familie in Nordafrika beschnitten wird, nicht wahr?«
»Über konkrete Fälle kann und werde ich Ihnen aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes keine Auskunft geben. Und ich glaube, es ist besser, wenn Sie jetzt g e hen.«
Ich seufzte. »Herr Baphomet, was Ihre Frau erzählt, ist schlicht gelogen. Entweder sie weiß das, oder sie leidet an einer Realitätsverschiebung. Sie hat mir erzählt, dieser Tobias sei von seinem Vater schwer misshandelt worden. Was sie mir aus Gründen des von Ihnen beschworenen Persönlichkeitsschutzes übrigens gar nicht hätte erzählen dürfen.«
Ambrosius Baphomet schaltete sofort. Und zwar auf konziliante Verhandlungsbereitschaft. »Ich hatte doch vorhin schon den Eindruck, dass Sie das Kind kennen.«
»Reiner Zufall. Aber Sie täuschen sich, falls Sie mich zu den Bösen zählen, zu den Anwälten, Familienfreu n den oder Journalisten, die Kinder aus Ihren Klauen retten wollen. Das bundesverdienstkreuzverdächtige Kinde r ret ten überlasse ich Ihnen. Ich interessiere mich für G e schichten. Und die von Tobias ist so eine, für die sich Journalisten interessieren, jedenfalls solche wie ich. Da ist Gruseln drin, verstehen Sie: eine schwachsinnige Heimleiterin und ihr Ehemann, ein Geschäftemacher im Pullover des Gutmenschen. Ich werde Ihnen, Herr Baphomet, in meinem Artikel vorwerfen, dass Sie mit gefälschten Gutachten Kinder für Ihr Sonnennest rekr u tieren, um damit Geld zu verdienen.«
»Sie haben mich missverstanden, Frau Nerz«, antwo r tete Baphomet freundlich geduldig. »Ich frage deshalb, ob Sie das Kind kennen, weil ich es nicht kenne.«
Jetzt hatte er mich. »Was?«
»Ganz einfach. Es befindet sich seit Mittwoch auf dem Gelände. Seine Identität ist uns unbekannt. Wir haben von ihm nur erfahren, dass er Tobias heißt. Wir verm u ten, dass
Weitere Kostenlose Bücher