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Lehmann, Christine

Lehmann, Christine

Titel: Lehmann, Christine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mit Teufelsg'walt
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seine Mutter ihn an der Tür ausgesetzt hat.«
    Gelogen oder nicht? Ich konnte es beim besten Willen nicht entscheiden.
    »Und wenn Sie ihn kennen, dann müssen Sie uns s a gen, wo er hingehört, Frau Nerz.«
    »Er heißt …« Konnten ihm daraus Nachteile erwac h sen?, fragte ich mich. »Er heißt Tobias Vlora. Seine Mu t ter hat sich gestern umgebracht, weil das Jugendamt ihr den Jungen weggenommen hat. Und hören Sie auf, mir was vom Pferd zu erzählen, Herr Baphomet.«
    Er musterte mich mit festgezurrtem Lächeln von oben bis unten, vom Haarkamm über den Brilli in meinem Ohr, den Parka, den Rock über den Jeans bis zu den Springerstiefeln.
    »Ich glaube, Sie haben recht«, sagte ich. »Ich gehe jetzt besser.«
    Im Treppenhaus hallten unsere Tritte auf steinernen Stufen. Von draußen klang das Geschrei spielender Ki n der herein. Es klang nach Volksschule in der großen Pa u se zu Zeiten, als der Schönschreiblehrer noch Kopfnüsse hatte verteilen dürfen. Es roch nach Einsamkeit unter vielen, nach dem einen Kind, das sich auf dem Klo ve r stec k te und am liebsten in der Schüssel verschwunden wäre, weil es am Morgen vergessen hatte, die Unterhose anzuziehen, und nachher in der Umkleide vorm Turnu n terricht von gellendem Gelächter gegeißelt werden wü r de. Kein Kinderschmerz war größer als der, ausgelacht zu werden.
    »Haben Sie schon unseren Karzer gesehen?« fragte Ambrosius unvermittelt, als wir vor das Gebäude traten.
    »Was?«
    »Wissen Sie, was ein Karzer ist?«
    Ich war so verblüfft, dass ich wie ein Schulbub an t wortete: »Ein Kerker, eine Arrestzelle!«
    »Genau.«
    »Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie hier e i nen Karzer haben? Für die Kinder?«
    Ambrosius genoss meine Entgeisterung. »Wollen Sie ihn sehen? Unsere Kinder gruseln sich ganz fürchterlich davor.« Er lachte laut. »Aber Kinder müssen ja auch le r nen, mit ihrer Angst umzugehen, sie auszuhalten und sie zu überwinden.«

20
     
    Er lenkte mich ums Haus zum einstigen Lieferantenei n gang. Die Schütte für Kohlen aus früheren Jahren befand sich neben einer grünen Tür. Eine steile Treppe führte hinab. Ambrosius ging voran. Wir kamen an Gefriertr u hen und Kühlschränken vorbei in einen Gewölbekeller. In Regalen lagerten Flaschen mit Most. Es roch nach Sekt und Äpfeln.
    Ambrosius öffnete im hintersten Eck eine schwere E i sentür mit Riegel und sagte: »Und das ist unser Karzer.« Er trat beiseite, damit ich einen Blick in die Zelle werfen konnte. Auf dem Estrich stand ein runder Schemel aus Plastik, sonst nichts. Der vergilbte Putz war, wie es sich gehörte, voll von Kratzern und Kritzeleien.
    »Sie benutzen ihn tatsächlich?«
    Der Heimleiter lachte. »Natürlich. Unsere Kinder sind keine Engel. Sie haben Schwierigkeiten, sich an Regeln zu halten. Das stört sie selbst. Wir haben mit ihnen ber a ten, was sie sich als Strafmaßnahme bei Regelverstößen vorstellen könnten. Sie haben uns einen Karzer vorg e schlagen. Kinder sehnen sich nach Regeln und danach, dass jemand dafür sorgt, dass sie eingehalten werden.«
    »Sperren Sie auch die Kleinen hier ein?«
    Mit eigenartiger Abschätzigkeit glitzerten seine Augen mich an. »Ich kann mir schon vorstellen, was Sie schre i ben werden. Im Sonnennest werden Kinder in den Keller gesperrt.«
    »So ungefähr würde ich es ausdrücken.«
    »Da geht es Ihnen wie den meisten Menschen, leider auch den meisten Eltern. Sie haben keine Ahnung, wie Kinderköpfe ticken. Kinder brauchen Liebe. Und wissen Sie, warum? Weil Liebe ihnen Sicherheit gibt. Wissen Sie, was ein Kind als Erstes bewusst tut? Es nimmt Di n ge in die Hand und lässt sie fallen. Immer wieder. So e r forschen Kinder das Gesetz der Kausalität. Wenn ich das mache, passiert immer das. Das Wenn-dann schafft S i cherheit. Das vergessen viele Eltern über ihren Ideen von Liebe und Toleranz. Und schon tanzen die Kinder ihnen auf der Nase herum. Kinder gehen immer so weit, wie man sie lässt. Sie testen uns aus. Doch sie sind nicht glücklich damit. E i gentlich wollen sie nur wissen, wann Schluss ist. Deshalb stellen wir hier Regeln auf. Wer sie übertritt, weiß genau, was ihm blüht. Und ein oder zwei Stunden Karzer sch a den nicht. Im Gegenteil, das Kind kommt zur Ruhe und kann nachdenken. Gehen Sie doch mal rein.«
    »Und Sie schließen mich ein?«
    Er lachte. »Fürchten Sie das?«
    Verdammt! Ich machte einen Schritt in die Zelle, ließ aber die Hand am Türrahmen. Er hätte sie zertrümmern müssen, wenn er

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