Lehmann, Christine
die Eisentür zuschlug. Ein Fensterchen lag in dicker Wand unter der Decke, zu hoch für die Flucht eines Kindes, zu klein für einen Halbwüchsigen oder Erwachsenen.
Und in der Tat: Ambrosius konnte der Versuchung nicht widerstehen. Ich hatte es geahnt, und trotzdem war er schneller. Ich spürte einen Stoß. Meine Hand riss vom Türrahmen ab, ich knallte gegen die Wand. Meine Schu l ter jammerte. Die Eisentür fiel mit erzenen Klängen zu. Ich hörte den Riegel einrasten.
»He!«
Gleich darauf öffnete sich in der Tür ein Viereck, da r in Ambrosius Baphomets grinsendes Gesicht. »So«, sa g te er, »und jetzt geben Sie mir Ihr Handy.«
»Warum sollte ich?«
»Weil Sie nicht wissen, was passiert, wenn Sie es nicht tun.«
Ich versuchte zu lachen. »Ich bin kein Kind mehr. U n gewissheit macht mir keine Angst.«
»Doch!«, erwiderte er. »Sie wollen es nur nicht wah r haben.«
»Sie haben ja wirklich einen an der Klatsch! Was soll das denn werden, wenn es fertig ist?«
»Sehen Sie?« Die Augen im Gucktürchen glänzten b e schwipst von Macht. »Sie möchten doch wissen, wie es ausgeht.«
»Nein, Sie Granatenseckel! Ich frage Sie, ob Ihnen die Konsequenzen Ihres Handelns klar sind.«
»Da ist es schon: das Bedürfnis, eine Situation zu ko n trollieren. Sie reden mit mir, als wäre ich ein kleines Kind, um die Handlungsmacht zurückzugewinnen. Auch Sie wissen, was wir alle wissen, tief drinnen in unseren kindlichen Herzen: Nur Erwachsene haben Macht.«
Himmel noch mal! »Ich werde Sie anzeigen wegen Freiheitsberaubung. Dann spüren Sie die Macht des G e setzes. Und Ihren Laden können Sie dann dichtmachen. Wäre ja nicht der erste.«
Er lächelte amüsiert.
Ja, zum Teufel! Er hatte doch nicht vor … »Hören Sie, wenn ich Ihnen einen kleinen Rat geben darf. Als Fac h frau gewissermaßen und langjährige Polizeireporterin.«
Ich gab ihm eine Sekunde. Sein Pädagogenpanzer b e kam einen winzigen Riss.
»Stellen Sie es sich nicht zu leicht vor. Es ist heutz u tage verdammt schwierig, eine Leiche zu beseitigen. Selbst wenn Sie mich zerstückeln und in Mülltüten über halb Deutschland verteilen und ich restlos in der Mül l verbrennung in Flammen aufgehe, wird man Ihnen draufkommen. Und falls Sie die geniale Idee haben sol l ten, meine Leiche in meinem Wagen zu verbrennen – den müssen Sie ja auch noch beseitigen –, muss ich Sie enttäuschen. Die Rechtsmedizin wird feststellen, dass ich schon tot war. Und weil ein Auto nicht einfach so brennt, werden Sie Brandbeschleuniger benutzen müssen. Und auch das sehen die Experten. Alle Spuren werden sie zu Ihnen führen. Meine Redaktion weiß, dass ich heute hier war. Es gibt Zeugen, die mich gesehen haben. Und wenn Ihre Angestellten nicht reden, die Kinder werden es tun.«
Ich dachte an Tobi und mir wurde schwarz in der Se e le. Den würde Ambrosius unbedingt verschwinden lassen müssen.
»Und selbst wenn Sie noch so glaubwürdig beteuern, ich hätte den Ort auch wieder verlassen, irgendwann wird die Polizei mit der gesamten Kriminaltechnik einrücken. Ich habe überall Fingerabdrücke hinterlassen, ich habe meine Haare verstreut, ich werde in dieser Zelle Blut z u rücklassen. So gut können Sie gar nicht putzen, dass man keine DNS von mir findet.«
Ambrosius gluckste sicher hinter dem Türblatt aus Ei sen. »Und Sie behaupten, Sie hätten keine Angst!«
»Sie Arschgesicht! Machen Sie das eigentlich mit Ih ren Kindern auch so?«
»Was?«
»So ein perfides System von Angst und Unsicherheit aufbauen unterm Deckmantel klarer Regeln.«
Er lachte. »Sie geben also zu, dass Sie Angst haben?«
»Und Sie? Geben Sie zu, dass Sie das mit Ihren Ki n dern auch so machen? Gnade erst, wenn die Dergel eine Schwäche zugeben?«
»Ist Angst eine Schwäche?«
Ich hatte es schon immer geahnt. Jetzt wusste ich es: Alle Pädagogik war Sadismus in Christuswolle! Eine durchaus befreiende Erkenntnis.
»Denken Sie darüber nach«, hörte ich Ambrosius noch sagen. Dann schloss sich die Klappe.
21
Mein Handy hätte er nicht verlangen müssen. Es hatte kein Netz. Es taugte nur zum Fotosmachen. Ich fotogr a fierte die Wände und versuchte, mit meiner maßlosen Verblüffung fertig zu werden. Wie hatte mir das passi e ren können? Mir! Richard würde mich auslachen. Und Sally erst. Ich hätte ihm oder wenigstens Sally sagen müssen, dass ich dem Sonnennest einen Besuch abstatten wollte. Aber ich hatte es niemandem gesagt.
Ich setzte mich auf den Plastikschemel. Er war
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