Lehmann, Sebastian
bekommen, wenn sie Sex haben. Und dann sagt die Frau: ›Ach, Schatz, das ist doch bei uns auch so. Wir haben zwei Kinder und hatten zweimal Sex.‹«
Ich merke, wie ich wieder sehr müde werde. Komme ich eben zu spät zur Arbeit, ich habe mir ja nicht ausgesucht, Chef zu sein. Ich denke wieder an den blöden Artikel über Tiergarten, mit dem ich immer noch nicht weitergekommen bin, dann schlafe ich auch schon ein.
Zehn Tage später sitze ich in einem Eltern-Kind-Café im Prenzlauer Berg. Das Café heißt wahnsinnig ironisch »Married with children«. Ich fühle mich sehr fehl am Platz, denn ich bin allein. Allein heißt hier: ohne Kind. Ein mittelalter (jaja, so ist es halt) Mann allein in einem Eltern-Kind-Café!
Ich konzentriere mich auf meinen Latte macchiato, der vor mir steht, und versuche, so teilnahmslos wie möglich zu wirken. Alle drei Sekunden schaue ich auf die Uhr und mache genervte Seufzlaute, damit alle mitbekommen, dass ich auf jemanden warte. Natürlich nicht auf irgendjemanden, sondern auf ein Kind. Und das stimmt ja auch, ich bin mit Kurt hier verabredet, aber er ist zu spät. Das darf er, denn er hat ein Kind.
Hinter mir, aus Richtung Spielecke, die im Prinzip dasganze Café einnimmt, höre ich ein mir vertrautes Geräusch. Ein Bobbycar, das über Dielen rollt. Dazu schreit ein Kind: »Später werde ich LKW-Fahrer! Später werde ich LKW-Fahrer!«
Eine Minute später bollert das dickliche Kind mit seinem Gefährt monoton gegen meinen Stuhl, als sitze es auf einem mechanischen Aufziehauto. Ich blicke mich nach einem zum Kind gehörenden Erziehungsberechtigten um, selbst wenn ich mich in einem Eltern-Kind-Café wohl kaum über ein Kind beschweren kann, da sehe ich Kurt, wie er durch die Tür zu meinem Tisch geeilt kommt. In der Hand hält er eine Art riesige Tragetasche, in der unter unzähligen Deckchen und Kisschen das Baby verborgen ist. Es schläft.
»Jetzt schläft er.« Kurt lässt sich vollkommen erschöpft auf den Stuhl mir gegenüber fallen und stellt die Tragetasche auf den freien Stuhl zwischen uns. Dunkle Ringe unter den Augen verleihen Kurt ein fast gespenstisches Aussehen, er sieht jetzt wirklich aus wie Kurt Cobain neunzehnhundertvierundneunzig. Sofort wird ohne Rückfragen von der Bedienung ein riesiger Latte macchiato vor ihn auf den Tisch gestellt.
»Jetzt schläft er«, wiederholt er. »Jetzt!« Er schaut mich aus glasigen Augen an. »Aber heute Nacht nicht. Gestern Nacht auch nicht. Überhaupt scheint er nur tagsüber zu schlafen.«
»Oh«, sage ich, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Das macht mir alles ein wenig Angst. Ich beuge mich über die Tragetasche und suche das Baby. Unendlich friedlich und unendlich niedlich liegt es unter seinen Decken, die winzigen Augen geschlossen, ruhig atmend. Meine Angstist wie weggeblasen. Und dann passiert, was ich nie für möglich gehalten hätte: Eine Welle der Zuneigung überrollt mich. Ich bekomme tatsächlich feuchte Augen.
»Kurt«, stammle ich, »das ist das Schönste, was ich je in meinem Leben gesehen habe. Ich bin so froh für dich.«
Aber Kurt hört mich nicht. Er hat seinen Kopf auf den Tisch gelegt und ist eingeschlafen. Ich kann ihn unmöglich wecken, wenn er die letzten zwei Nächte nicht geschlafen hat. Langsam trinke ich meinen Latte macchiato aus und bestelle mir noch einen. Kurt wacht auch nicht auf, als das Kind auf dem Bobbycar ruft: »Später werde ich Immobilienmakler! Später werde ich Immobilienmakler!«, und jetzt gegen Kurts Stuhl bollert. Auch das Baby schläft einfach weiter. Ich sitze zufrieden zwischen den zwei schlafenden Cobains und lächle debil.
Plötzlich wacht Kurt auf. Verwirrt blickt er sich um.
»Wir müssen los!«, ruft er nervös. »Milch!« Er nimmt die Tragetasche, nickt mir kurz zu und rennt aus dem Eltern-Kind-Café auf die Straße, hält das erste vorbeifahrende Taxi an, indem er sich auf die Straße wirft, zerrt den bisherigen Fahrgast vom Rücksitz und braust in Richtung seiner Wohnung davon. Seinen Latte macchiato hat er nicht einmal angerührt. Also trinke ich den eben auch noch aus.
Als ich total hyperaktiv von dem ganzen Kaffee zur Tür wanke, bemerke ich den Blick einer erstaunlich jungen Mutter – wahrscheinlich so alt wie ich –, die neben ihrem Sohn in der Spielecke sitzt, eine riesige Legoburg vor sich. Das Kind trägt eine neongelbe Sonnenbrille. Die Mutter flüstert ihm etwas zu, ich höre nur »Wär der was?«, aber der Junge schüttelt angewidert den Kopf und
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