Lehtolainen, Leena
die Dienstwaffe allerdings auch nichts nutzen. Bisher hatte er jedoch entweder Stichwaffen oder seine Fäuste eingesetzt, und dagegen war der Revolver, den ich jetzt ins Halfter schob, durchaus brauchbar. Obwohl ich inzwischen wieder eine gute Schützin war, empfand ich ihn immer noch als Fremdkörper. Immer noch trugen nur wenige von uns ständig eine Waffe, obwohl die Tendenz in letzter Zeit stieg.
Den Revolver sichtbar zu tragen, war allerdings nach wie vor nicht üblich.
Als Pihko zu mir in den Saab stieg, fiel mir ein, dass ich ihn wohl allein nach Espoo zurückschicken musste, nachdem wir Tarja Kivimäki vernommen hatten. Pihko nickte nur, als ich es ihm sagte. Er redete nicht viel. Auch jetzt holte er sein Lehrbuch über Strafrecht hervor, sobald ich auf die Autobahn einscherte.
Im Dezernat war Pihko unter dem nicht unbedingt als Kompli-ment gemeinten Spitznamen Leuchte bekannt. Er studierte neben der Arbeit Jura und Staatswissenschaften und hatte umgehend bei Taskinen sein Interesse angemeldet, als er von einem geplanten Promotionsstudium für Polizisten erfuhr. Ich empfand ihn als angenehmen Kollegen, denn er war nie lau-nisch. Manchmal fragte ich mich, was hinter seinem Strebertum stecken mochte. Vielleicht hatte er in der Schule noch keine Lust gehabt zu lernen, hatte das Abitur vermasselt und war nur für die Polizeischule gut genug gewesen, hatte sich aber später besonnen und seine Ziele höher gesteckt. Mit dem Promotionsstudium hatte ich auch geliebäugelt, aber nun musste ich Pläne dieser Art wohl für einige Jahre auf Eis legen.
Vor dem Regierungsgebäude war eine ganze Mauer von Fernsehkameras aufgebaut, hinter der sich Reporter und Fotografen drängten. Martti Sahala, der Innenminister, stand mitten im Gedränge und gab hastige Erklärungen ab. Ich hatte am Morgen flüchtig in die Zeitung geschaut und wusste, dass das Getöse einem Vorfall galt, der sich in der Silvesternacht am Grenzübergang in Vaalimaa ereignet hatte: Von der russischen Seite her hatte eine Horde bosnischer Kroaten mit Waffengewalt versucht, die Grenze zu überschreiten, um in Finnland Asyl zu beantragen. Wie durch ein Wunder war nur ein Grenzschützer verwundet worden. Dennoch war die Regierung mitten im Urlaub zu einer Krisensitzung zusammengetreten. Im Reporter-gewühl erkannte ich Tarja Kivimäki im leuchtend gelben Mantel; sie streckte dem Innenminister ihr Mikrophon entgegen.
Ich konnte nicht sehen, ob sie den Minister tatsächlich mit stechendem Blick ansah, wie ich es mir vorstellte, aber dass sie ihm mit ihren Fragen ordentlich zusetzen würde, stand für mich fest. Martti Sahala wurde nur selten von Journalisten umlagert, obwohl das Gerücht umging, er sei die graue Eminenz der Regierung und übe hinter den Kulissen sehr viel mehr Macht aus, als die Wähler glaubten. Er war erst Mitte vierzig und galt allgemein als aussichtsreicher Kandidat bei der Präsident-schaftswahl im Jahr 2006. Im Hinblick auf das Polizeiwesen hatte Sahala sich als ausgesprochen tatkräftig erwiesen und unter anderem eine neue Bezirkseinteilung durchgesetzt.
Andererseits hielt er viel von Kameradentreue und mischte sich unweigerlich in die Ermittlungen ein, wenn die Aktivitäten eines seiner Freunde unter die Lupe genommen wurden. Mindestens zwei Unternehmer waren durch sein Eingreifen viel zu glimpf-lich davongekommen.
Als Sahala in seinen Dienstwagen stieg, löste sich die Presse-meute auf. Tarja Kivimäki sprach kurz mit einem Kameramann und sah sich dann suchend um. Da erst wurde mir klar, dass ich mir keine Gedanken darüber gemacht hatte, wo ich die Vernehmung führen sollte. Etwa im eiskalten Polizeifahrzeug?
»Was wollen Sie eigentlich von mir?«, erkundigte sich Tarja Kivimäki, nachdem sie uns begrüßt hatte.
»Eine offizielle Fassung der Aussage, die Sie vor einigen Tagen gemacht haben, diesmal auf Band. Im Auto ist es ein wenig unbequem, wir müssen uns wohl in ein Café setzen.«
»Wie wäre es mit dem Café in der Universitätsbibliothek?«, schlug Pihko vor. »Um diese Zeit ist es dort ruhig.«
»Das ist mir recht, ich muss nämlich um halb eins im Parlament sein«, sagte Kivimäki. »Darf man bei einer offiziellen Vernehmung essen?«
»Ausnahmsweise. Eine Vernehmung im Café ist ein wenig unorthodox, das muss ich zugeben.« Jedes Mal, wenn ich mit Tarja Kivimäki sprach, hatte ich das Gefühl, beim Fechten anzutreten, ohne mit meiner Waffe umgehen zu können. Für uns beide gehörte das Sprechen zum Beruf, genauer
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