Leichenblässe
abgesehen von Mary und Paul, noch niemandem erzählt. Aber ich werde nach dem
Sommer in den Ruhestand gehen.»
Ich schaute ihn überrascht an. Ich hatte gedacht, er würde bis zum Jahresende bleiben. «Aus gesundheitlichen Gründen?»
«Sagen wir einfach, ich habe es Mary versprochen. Hör zu, du bist einer meiner besten Studenten gewesen, und das hier ist
unsere letzte Gelegenheit, zusammenzuarbeiten. Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du noch eine Woche bleibst.»
Für einen Moment konnte ich nur bewundern, wie geschickt er mich in die Falle gelockt hatte. «Ich bin dir auf den Leim gegangen,
oder?»
Er lächelte. «Allerdings. Aber du kannst kaum das Wort brechen, das du einem alten Mann gegeben hast, oder?»
|105| Ich musste lachen. Komischerweise fühlte ich mich erleichtert wie seit einer Ewigkeit nicht. «Na schön. Eine Woche.»
Tom nickte zufrieden. Er trommelte mit seinen Fingern im Takt zur Trompete, die aus den Lautsprechern ertönte.
«Und was hältst du von Dans neuer Kollegin?»
Ich schaute aus dem Fenster. «Jacobsen? Sie macht einen ganz fähigen Eindruck.»
«Mmmh.» Er trommelte mit den Fingern einen kleinen Tusch auf das Lenkrad. «Attraktiv, oder?»
«Ja, wahrscheinlich.» Tom sagte nichts. Mein Gesicht begann schon wieder zu glühen. «Was?»
«Nichts», sagte er grinsend.
Tom hatte vorher in der Leichenhalle angerufen und angekündigt, dass die exhumierte Leiche unterwegs war. Sie musste in einem
anderen Autopsiesaal als diejenige aus der Hütte untersucht werden, um eine gegenseitige Kontamination zu vermeiden. Allein
der Verdacht darauf könnte die Beweisführung zu einem Albtraum machen, sobald der Mörder gefasst war.
Vorausgesetzt, er wurde gefasst.
Kyle befand sich gerade im Gespräch mit zwei anderen Assistenten, als wir ankamen. Er brach es ab und führte uns in den Saal,
den er vorbereitet hatte, wobei er sich die ganze Zeit umschaute, als würde er erwarten – oder hoffen –, dass noch jemand kam. Nachdem er gemerkt hatte, dass wir allein waren, sah er geknickt aus.
«Kommt Summer heute nicht?»
Der Versuch, beiläufig zu klingen, schlug fehl. «Ich könnte mir denken, dass sie später vorbeischaut», sagte Tom zu ihm.
«Ach so. Ich dachte nur.»
|106| Tom verzog keine Miene, bis Kyle den Autopsiesaal verlassen hatte. «Muss Frühling sein», sagte er lächelnd. «Bei allen spielen
die Hormone verrückt.»
Der Sarg aus Steeple Hill wurde hereingebracht, als wir uns gerade umgezogen hatten. Er war in einem kistenartigen Aluminiumcontainer
transportiert worden, sodass wie bei russischen Puppen ein Sarg im anderen steckte. Da die Leiche zuerst geröntgt werden musste,
rollte Kyle das Ganze auf einem Wagen in die Radiologie.
«Brauchen Sie Hilfe dabei?», fragte er.
«Nein danke, wir kommen zurecht.»
«Tom …», sagte ich. Zum Röntgen mussten die Überreste aus dem Sarg gehoben werden. Durch die Verwesung war die Körpermasse zwar
geringer geworden, ich wollte aber nicht, dass er sich überanstrengte.
Er hatte meine Gedanken erraten und seufzte verärgert auf. «Wir können warten, bis Summer hier ist. Ich habe Kyle erst neulich
in Schwierigkeiten gebracht.»
«Ach, das ist schon in Ordnung. Martin und Jason können für mich einspringen.» Bei der Erwähnung von Summer war Kyle sofort
hellhörig geworden. Er grinste schüchtern. «Außerdem ist Dr. Hicks gerade nicht hier.»
Widerwillig gab sich Tom geschlagen. «Na gut, meinetwegen. Sobald wir Fotos gemacht haben, kannst du David helfen, die Leiche
herauszuheben.» In dem Moment klingelte sein Telefon. Er schaute auf das Display. «Es ist Dan. Ich gehe mal lieber ran.»
Während Tom auf den Flur ging, um mit Gardner zu sprechen, öffneten Kyle und ich die großen Schnappverschlüsse, mit denen
der Aluminiumdeckel festgehalten wurde.
«Und Sie sind Engländer, ja?», fragte er. «Aus London?»
«Stimmt.»
|107| «Wow. Und wie ist Europa so?»
Während ich mich mit einem klemmenden Verschluss abmühte, überlegte ich, was ich darauf antworten sollte. «Tja, es ist von
Land zu Land ziemlich verschieden.»
«Echt? Irgendwann will ich mal hinfahren. Ich würde gern mal den Eiffelturm und solche Sachen sehen. Ich bin schon durch die
Staaten gereist, aber ich wollte immer mal ins Ausland.»
«Dann sollten Sie es tun.»
«Nicht mit meinem Gehalt.» Er lächelte wehmütig. «Und … äh, wird Summer auch mal Anthropologe wie Dr.
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