Leichte Turbulenzen - Roman
gewesen, einige davon zu entwenden. Genau wie es jetzt ein Kinderspiel war, verbotenerweise ins Gebäude von Madame Tussauds einzudringen. Grundsätzlich war Ivy von klein auf dagegen gewesen, Dinge zu tun, die strafbar waren oder andere Leute schädigten. Das geplante Eindringen in die Tussauds-Galerie war also eine absolute Ausnahme. Und auch gegen dieses Vorhaben hätte sie einige Einwände vorzubringen gehabt, wenn nicht das Bedürfnis größer gewesen wäre, zu van Gogh vorzudringen, der längst in der Galerie stand. Sie wusste, dass sie hier gerade ihren Job aufs Spiel setzte, besonders nachdem sie Fortier so eilig verlassen hatte. Verletzte Männer konnten einem gefährlich werden, das wusste sie von Alices Praxisgeschichten. Allerdings: Wirklich einbrechen würde sie ja gar nicht. Mit Willems Schlüssel würde sie sich selbst die Haupttüren öffnen. Überhaupt hatte sie nur Harmloses im Sinn. Ivy wollte lediglich für Desmond ihren fertigen van Gogh fotografieren, um ihm als Antwort auf seine Mail das Bild zurückzusenden. Morgen würde sie vor ihrem Abflug nicht mehr dazukommen. Und sie wollte doch so gerne wissen, was er zu ihrer Umsetzung seiner Überlegungen meinte.
Gestern Abend hatten die beiden Security-Männer in ihren dunkelblauen Uniformen und mit den Funkgeräten in den Ohren Vincent vor ihren Augen auf die Sackkarre geladen und weggeschoben. Wie ein Stück Holz. Bernie und Tony holten jedes Mal die Figuren ab, um sie nach unten in die Galerie zu bringen oder aber um sie zum Versenden nach Bangkok, Las Vegas, Shanghai oder Washington, D. C., fertig zu machen. Bisher war so eine Abholung, zumindest für Ivy, nie eine große Sache gewesen. Doch gestern fühlte es sich anders an. Befremdet hatte sie beobachtet, wie Bernie mit beiden Händen den stämmigen Vincent mit Schwung an der Hüfte gepackt und hochgehoben hatte, während Tony ihm die Sackkarre untergeschoben hatte.
Ivy spiegelte sich in der dunklen, von Holzstreben durchbrochenen Scheibe der Eingangstür. Hinter ihr rauschten die Autos über die mit Regen überschwemmte Straße. Wenn Willem nur geahnt hätte, dass sie drauf und dran war, sich mit seinem Schlüssel Zugang zur Galerie zu verschaffen. Alle Luft wäre aus ihm entwichen.
Sie zog sich die Kapuze ihrer Regenjacke über den Kopf, ging in die Knie und testete aus, welcher Schlüssel ins Schloss passte. Sie musste einige Male probieren, bis sie endlich mit ihren feuchten Fingern den richtigen gefunden hatte. Die Tür bewegte sich. Ivy richtete sich wieder auf und trat in den geräuschlosen, schwach beleuchteten Vorraum ein, in dem der Besucher gleich von einem finster dreinblickenden Jack Sparrow in kompletter Piratenmontur, mit wilder Dreadlock-Frisur und schwarz geränderten Augen empfangen wurde, den Ivy im vergangenen Sommer modelliert hatte.
Von drinnen zog sie die Tür vorsichtig wieder hinter sich zu. Willems Schlüsselbund hielt sie fest in ihrer Hand, damit er in der Harrods-Tüte nicht klimperte. Sicherlich streiften ein paar Sicherheitsmänner durch die Galerieräume, genau wusste sie das allerdings nicht. Auf dem roten, flauschigen Teppichboden stehend, sah sie sich um. Das Licht über dem Kassenschalter, der sich hinter einer gewölbten Plexiglasscheibe befand, war heruntergedimmt, sodass die weitere Umgebung nur diffus zu erkennen war. Auf der gegenüberliegenden Seite des runden Raumes musste sie durch die weiße Schwingtür, auf der ein Schild mit der Aufschrift Private angebracht war. Im blutrot gestrichenen Treppenhaus knipste sie das Halogenlicht an und lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.
Was bitte sollte sie zu ihrer Erklärung hervorbringen, wenn sie auf einen der Security-Männer traf? Vor Aufregung fiel ihr nichts Vernünftiges ein außer der kindischen, unglaubwürdigen Ausrede, dass sie schlafwandelte. In Ivys Kopf war plötzlich unheimlich viel Platz. Dafür überhaupt kein bisschen Inhalt. Egal, wie sehr sie nach einer klugen Ausrede suchte, ihr fiel nichts ein. In der momentanen Verfassung, in der sogar schon das Schlucken zu einer echten Herausforderung wurde, war es unmöglich, einen klaren Gedanken hinzubekommen. Über diesen wichtigen, entscheidenden Punkt hätte sie zuvor, im Taxi, nachdenken sollen. Doch da war noch das Telefonat mit Javis zu erledigen gewesen, das überraschend unkompliziert verlaufen war, da er unumwunden zugegeben hatte, dass sich die Polly-Pocket-Dose in seinem Besitz befand.
In der zweiten Etage
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