Leichtes Beben
Stojans Rücken gefeuert, der sich mit schützend vors Gesicht gehaltenen Händen im letzten Moment zu Boden geworfen hatte.
|182| »Er hat mich am Leben gelassen, obwohl er mich hätte töten müssen!«, hatte Stojan zu Hoffmann gesagt, der ihm die ganze Zeit wortlos zugehört hatte. »Die Geschichte mit den beiden Huren hat mir das Leben gerettet. Das Massaker, das Milan und seine Leute in unserem Dorf angerichtet haben, war unbeschreiblich. Und manchmal denke ich: Hätte er mich doch bloß damals auch getötet! Dann wäre ich heute nicht die traurige Gestalt, die vor Ihnen sitzt.«
Hoffmann hatte betreten auf seinen Teller gestarrt und mit seiner Gabel im Reis herumgestochert. Nachdem der andere bezahlt hatte und wortlos verschwunden war, hatte er sein Essen nahezu unberührt beiseitegeschoben.
Plötzlich stand Fräulein Ogata wieder vor ihm und sagte auf ihre immer freundliche Art: »Haben Sie gewählt, Herr Hoffmann?«
Unschlüssig klappte er die Speisekarte zu, suchte Fräulein Ogatas Blick und sagte schließlich: »Ich nehme einmal Tempura, bitte!«
»Eine gute Wahl. Und was möchten Sie trinken? Sake vielleicht? Oder heute lieber grünen Tee?«
»Grüner Tee ist gut!«, antwortete Hoffmann.
»Sehr wohl«, sagte Fräulein Ogata und wandte sich mit einem Lächeln ab.
Da sagte Hoffmann: »Ihr Onkel? Wie geht es ihm?«
»Gut, glaube ich!«, antwortete Fräulein Ogata. Sie sprach nicht mehr so leise wie bei ihren ersten Begegnungen. Anfangs hatte Hoffmann sie kaum verstanden, wenn sie sich miteinander unterhielten.
|183| Hoffmann sah Herrn Nishi im Geiste vor sich. Nebenan in seiner Küche, mit von der Hitze und den Dämpfen gerötetem Gesicht über Pfannen und Töpfe gebeugt. Manchmal erschien er plötzlich im Gastraum, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Über seine Schildpattbrille hinweg spähte er in den Raum und ging von Tisch zu Tisch, um sich höchstpersönlich von der Zufriedenheit seiner Kunden zu überzeugen.
Fräulein Ogata nahm die Speisekarte, drehte sich um und lief mit kleinen flinken Schritten, als husche sie barfuß über glühende Kohlen hinweg, davon.
Hoffmann blickte ihr nach. Wäre er zwanzig Jahre jünger gewesen, hätte er sich wohl eingestanden, verliebt zu sein. Doch er war siebenundfünfzig und seit Jahren Witwer.
Nachdem Fräulein Ogata ihm seine frittierten Meeresfrüchte und auch den grünen Tee serviert hatte, überlegte Hoffmann, während er die köstlich riechenden Garnelen mit dem Messer zerkleinerte und unter den ebenfalls leicht süßlich duftenden Gemüsereis mischte, wie er es anstellen könnte, sie zu einer Verabredung zu überreden. Er starrte in die kleine Unterwasserlandschaft, in welcher die Fische schwerelos umherschwammen.
Nachdem er zum Abschluss noch einige Okashis probiert hatte, bat Hoffmann um die Rechnung. Als Fräulein Ogata dann vor ihm stand, verließ ihn der Mut, und er verwarf seinen Plan, ihr ein Treffen außerhalb des Restaurants vorzuschlagen. Stattdessen sagte er: »Das Essen war wieder ausgezeichnet. Sagen Sie das bitte Ihrem Onkel.« Nachdem er bezahlt hatte, |184| zog er sich hastig seinen Mantel über, drückte flüchtig Fräulein Ogatas kleine Hand und lief hinaus.
»Auf Wiedersehen, Herr Hoffmann!«, hörte er sie hinter sich sagen. »Kommen Sie bald wieder!«
Nach ein paar Schritten blieb er stehen, fuhr sich mit der Hand ein paar Mal übers Gesicht und rief gegen den Lärm des Straßenverkehrs: »Ich Idiot!« Und da nahm er es wahr. Er konnte ihr Parfüm so deutlich riechen, als hätte sie ihm ein paar Tröpfchen davon auf die Hand gesprüht, so wie die blaue Reinigungsflüssigkeit.
Nachdenklich lief er die Straße entlang, vorbei an wechselnden Schaufenstern, ohne von ihnen Notiz zu nehmen. Bis er vor der Auslage einer Parfümerie stehen blieb, kurz überlegte und hineinging.
Hoffmann war ganz benommen von den Tausenden Gerüchen. Ihm war, als stehe er in einem tropischen Garten voll unsichtbarer Blumen und als müsse er nur nach einer von ihnen greifen, und schon würde sie sichtbar werden.
»Haben Sie das hier?«, sagte er und streckte einer Verkäuferin seine Hand hin. »Dieses Fliederparfüm? Sommerflieder, genauer gesagt.«
Zögerlich roch die Verkäuferin daran und sagte: »Augenblick«, um sogleich zielstrebig eines der Regale anzusteuern. Daraus griff sie einen rubinrot glänzenden Flakon, auf den ein goldener Zerstäuber geschraubt war, zog einen eierschalfarbenen, hauchdünnen Papierstreifen aus einem Behälter
Weitere Kostenlose Bücher