Leichtes Beben
Nummer 17 fertig und sich bereits weiter hinauf in den dritten Stock manövriert, als Wangs Handy klingelte und er auf dem Display Kovacs Nummer sah.
»Was ist?«, sagte Wang, der inzwischen nahezu fehlerfrei Deutsch sprach und mit in den Nacken gelegtem Kopf und zugekniffenen Lidern nach oben spähte.
»Komm rauf, Mann, aber schnell! Hier hat sich gerade einer aufgehängt!«, rief Kovac in sein Handy.
Wang verstand nicht. »Was ist?«
»Einer hat sich gerade aufgehängt, verdammt!«, wiederholte Kovac. »Komm rauf! Läute irgendwo, damit man dir aufmacht, und nimm so schnell du kannst den Aufzug in den dritten Stock! Nimm den Notfallhammer mit!«
Wang blickte weiter nach oben, das Handy am Ohr. Er konnte sehen, wie Kovac aufgeregt mit dem Arm ruderte, klappte sein Handy zu und setzte sich in Bewegung. »Mist!«, fluchte er, schob sein Handy in die Hosentasche und lief zur Eingangstür. Dort drückte er so lange wahllos Klingelknöpfe, bis eine Frauenstimme »Ja? Hallo?« sagte.
»Ein Notfall!«, rief Wang, und das trockene Surren des Türöffners ertönte. Entschlossen stieß er die verglaste Tür auf. Er drückte den Liftknopf, der daraufhin hell zu leuchten begann, und trommelte mit den Fingern seiner rechten Hand gegen die verschrammte Fahrstuhltür.
Am Morgen hatten sie mit ihrem LKW in einer Einbahnstraße festgesteckt, weil der automatikbetriebene Wagen eines Anliegers mitten auf der Fahrbahn |193| stehen geblieben war, sodass Rangieren nicht möglich gewesen war. Sie hatten dadurch eine Dreiviertelstunde verloren. Und nun wartete im dritten Stock zu allem Überfluss ein Selbstmörder!
Wang klappte sein Handy auf, drückte die Ruftaste und presste das kleine Gerät erwartungsvoll ans Ohr. Es folgte ein Knacken, und Kovac sagte: »Wo bist du?«
»Im Aufzug. Ich bin gleich oben!«
»Okay! Du musst sofort rein!«
»Ich versuch’s.«
»Beeil dich!«
Kovac stand in seinem drehbaren Arbeitskorb in fünfzehn Metern Höhe vor dem Fenster des Selbstmordkandidaten und starrte gebannt in das Zimmer. Er spielte kurz mit dem Gedanken, aus dem Korb zu klettern, die Scheibe einzuschlagen und den Mann selbst abzuhängen, entschied sich aber dagegen. Womit hätte er die Scheibe einschlagen sollen? Etwa mit der bloßen Hand? Der rote Notfallhammer hatte im Wagen hinter dem Fahrersitz gelegen. Außerdem musste Wang jeden Moment da sein.
In seiner Zeit bei der Feuerwehr hatte Kovac einmal eine Fünfzehnjährige gerettet, die vom Dach springen wollte, weil sie dahintergekommen war, dass ihre beste Freundin sie mit ihrem Freund betrog.
Ein anderes Mal hatte er eine bewusstlose Rentnerin aus ihrer brennenden Wohnung getragen und zum Dank dafür anschließend noch monatelang Postkarten und kleine Geschenke von ihrer offenbar tiefgläubigen Tochter erhalten. Unter anderem einen kitschigen |194| Silberanhänger des heiligen Christophorus, der das Jesuskind auf den Schultern trägt. »So, wie sie meine Mutter aus den Flammen getragen haben!«, hatte die Frau in dem Begleitbrief geschrieben. Oder eine in helles Leder gebundene Taschenbibel der Evangelischen Kirche Deutschland, »damit Sie stets den rechten Weg vor Augen haben«.
Kovac hatte die Bibel gemeinsam mit dem Einpackpapier und der Karte weggeworfen. Genau wie all die anderen, völlig sinnlosen Geschenke. Denn was, zum Teufel, sollte er mit einem Engel aus Glas, einem Teelicht und einer aufklappbaren Holzkrippe in Zigarettenschachtelgröße?
Kein einziges Mal hatte er auf die Sendungen reagiert. Bis eines Abends das Telefon klingelte und eine ihm fremde Frauenstimme drohend sagte: »Warum reagieren Sie nicht auf meine Geschenke? Ich dachte, Sie seien ein mitfühlender Mensch! Doch offenbar habe ich mich in Ihnen getäuscht. Gott wird Sie dafür strafen!«
Noch lange nach dem Telefonat waren Kovac die Worte der Anruferin nicht aus dem Sinn gegangen. Und nun, da er in seinem Arbeitskorb stand und in die fremde Wohnung starrte, fielen sie ihm wieder ein.
Gott wird Sie dafür strafen!
Sein Handy klingelte.
»Ich stehe vor der Tür!«, sagte Wang.
»Aufbrechen! Du musst die Tür sofort aufbrechen!«, rief Kovac.
Gebannt starrte er durch das Fenster in die Wohnung, das Handy in der Hand. Da endlich kam Wang ins Bild. Nach vorn gebeugt, strich er sich mit |195| schmerzverzerrtem Gesicht über die rechte Hand, in welcher er den Hammer hielt.
Er stürzte auf den Selbstmörder zu, zog den Stuhl heran und packte die leblose Gestalt von unten. Den einen Arm um deren
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