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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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schwerelosen Pirouetten. Manchmal stiegen da oder dort Luftbläschen auf.
    Hoffmann war im Begriff, die Karte aufzuschlagen, |179| als Fräulein Ogata plötzlich einen ebenso kurzen wie irritierenden Laut von sich gab, näher an das Aquarium herantrat und noch einmal »Oh!« rief.
    Dabei verengten sich ihre ohnehin schmalen Augen, und mit argwöhnischem Blick auf die lange Seitenscheibe des Beckens sagte sie: »Na warte!« Dann machte sie kehrt und verschwand in der Küche.
    Hoffmann verstand nicht. Doch als Fräulein Ogata wenig später zurückkehrte, in der einen Hand eine Sprühflasche Fensterputzmittel, in der anderen ein helles Tuch, da begriff er. Offenbar hatte sie an der Scheibe einen Schmutzfleck entdeckt.
    Entschlossen sprühte sie mit zwei, drei Stößen aus der Flasche einen feinen blauen Regen an die Scheibe. Die Perlen blieben kurz haften, bevor sie zerliefen. Fräulein Ogata fing sie durch kräftiges Hin- und Herreiben mit dem hellen Tuch auf. Sie polierte und wischte. Bis sie zuletzt prüfend ihren Kopf leicht schräg legte, blinzelte und schließlich zufrieden lächelnd sagte: »Anko! Rote Bohnenpaste. Von den Kindern.«
    »Ah ja«, sagte Hoffmann, der sie die ganze Zeit beobachtet hatte.
    Geschickt wand sich Fräulein Ogata zwischen Tisch und Aquarium heraus, wobei sie einen Duftschleier hinter sich herzog. Hoffmann inhalierte den Geruch mit in den Nacken gelegtem Kopf. Dabei umfasste er mit den Fingern seiner rechten Hand die in einer hellen Papiertüte steckenden Stäbchen.
    Bei seinem ersten Besuch hatte er versucht, mit ihnen zu essen. Doch weil sein Hunger größer gewesen |180| war als sein Interesse am Erlernen neuer Fähigkeiten, hatte er die Stäbchen kurzerhand mit der Serviette abgewischt und neben seinen Teller gelegt.
    Hoffmann überflog ruhelos die Speisekarte. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er Tampura, frittierte Meeresfrüchte mit Reis und Gemüse, oder doch lieber Donburi nehmen sollte, gegartes Fleisch und Gemüse auf einer Schale Reis.
    Beim letzten Mal hatte ein Kosovo-Albaner an seinem Tisch gesessen, ein kleiner Mann mit spitzem Kinn und dunklen Ringen unter den nicht sehr großen Augen. Wenn er aß oder sprach, konnte Hoffmann seine schadhaften, schwärzlichen Zähne sehen.
    Sie waren zunächst nur stockend ins Gespräch gekommen, denn schon damals hatte Hoffmann nur Augen für Fräulein Ogata gehabt. Doch als der Mann, der ihm plötzlich seinen Reisepass hingestreckt hatte, vom Jugoslawienkrieg zu erzählen begann, hatte Hoffmann aufgehört zu essen und beklommen den Schilderungen seines Gegenübers gelauscht.
    Stojan Vitina, so hatte der Name des Mannes gelautet, hatte Anfang der achtziger Jahre in Belgrad seinen Wehrdienst abgeleistet und war anschließend in sein Dorf in der Nähe von Priština zurückgekehrt, wo er das Geschäft seines Vaters, einen kleinen Elektroladen, übernommen hatte. Seine Tochter Edina und sein Sohn Ibrahim waren damals noch klein gewesen.
    Stojan hatte seine Familie mit den Einkünften, die ihm sein Laden einbrachte, versorgen können. Doch dann war der Krieg ausgebrochen, und den Tag, an |181| dem die Serben ihr Dorf überfielen, würde er nie vergessen.
    Ein ehemaliger, allerdings serbischer Kamerad, mit dem er damals in Belgrad gedient hatte, hatte plötzlich mit vorgehaltenem Gewehr brüllend in seiner Wohnung gestanden. Doch Stojan, der den anderen sofort wiedererkannt hatte, hatte geistesgegenwärtig gerufen: »He, Milan, kennst du mich nicht mehr? Ich bin’s, Stojan! Stojan Vitina! Dein alter Kamerad!«
    »Halt’s Maul!«, hatte der andere geschrien und wild mit dem Gewehr herumgefuchtelt.
    Doch Stojan, der spürte, dass sein Leben davon abhing, ob sein Gegenüber ihn wiedererkannte, ließ nicht locker: »Mensch, Milan, weißt du noch, wie wir damals die beiden Mädels in den Park abgeschleppt haben, na, komm schon! Du erinnerst dich doch! Du hattest die Blonde mit dem Adler-Tattoo auf dem Arm und ich die Schwarze. Als wir am nächsten Morgen unseren Rausch ausgeschlafen hatten und die beiden verschwunden waren, haben wir in der Save gebadet!«
    Daraufhin hatte der Serbe kurz innegehalten, den Lauf des Gewehrs sinken und leicht auspendeln lassen und Stojan ein paar Sekunden lang durchdringend angesehen.
    Stojan waren diese Sekunden, die über Leben und Tod entscheiden sollten, unendlich vorgekommen. Irgendwann hatte der andere irgendetwas gebrüllt, blitzschnell seine Kalaschnikow hochgerissen und mehrere Salven in die Wand hinter

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