Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
Vom Netzwerk:
verschwand. Eines aber blieb ihm immer erhalten: seine Unzufriedenheit. Gerade an diesem Abend, noch dazu in der Stadt, in welcher er zur Schule gegangen war und jetzt nicht wusste, wohin, stand ihm diese Erkenntnis klar vor Augen.
    Nach kurzer Überlegung lief er stadteinwärts, denn diesen Abend wollte er nicht allein verbringen. Nachdem er in einer Stehpizzeria eine Portion zu weicher |199| Nudeln gegessen hatte, hielt er Ausschau nach einem Club oder einer Bar, in der bereits um diese Uhrzeit mehr zu bekommen war als nur ein freier Platz an der Theke. Und Wilke hatte Glück.
    Er setzte seinen Fuß in ein Stripteaselokal in der Nähe des Bahnhofs. Entschlossen tauchte er in das Halbdunkel ein, in dessen Tiefe eine rosafarben angestrahlte Bühne auszumachen war, auf der sich eine nackte Frau zu Chansonklängen räkelte. Reflektierende Goldsterne bedeckten ihre Brustwarzen, und ihre Scham war hinter einem ebenfalls goldenen, etwas größeren Stern verborgen. In ihrem dunklen, schulterlangen Haar leuchtete ein Diadem. Die ganze Aufmachung wirkte, als habe sich ein Mädchen, das noch immer von einem Leben als Prinzessin träumt, dieses Outfit ausgedacht.
    Wilke nahm in der Mitte Platz, ohne seinen Blick von der eher verspielt als aufreizend wirkenden Tänzerin zu lösen, die sich geschmeidig wand wie eine Schlange auf einem warmen Stein. Die Frau war nicht mehr wirklich jung, besaß aber die Gewandtheit einer Schülerin. Über einem der Seitentische stieg Zigarettenrauch auf, zog in gewundenen Schleifen hinüber in die Lichtkegel der Strahler rund um die Bühne und löste sich darin auf.
    Als junger Mann hatte sich Wilke ins Leben stürzen wollen wie der Falter in die Flamme. Doch mit den Jahren hatte er sich, ohne dass ihm dies bewusst geworden wäre, Zug um Zug davon wegbewegt und sich in einen Menschen verwandelt, der anfing, das Risiko zu scheuen. Im Beruf wie in der Liebe. Darüber war |200| er älter geworden, zaudernd, und noch immer war er ein Suchender.
    Während er an seinem Bier nippte, verfolgte Wilke das gymnastische Treiben der Tänzerin. Die Frau vollführte ihre Bewegungen im Gleichklang mit der Musik und wie in Zeitlupe, als folge sie der Choreographie eines Traumes. Manchmal hielt sie inne, inszenierte ein Stocken und hob langsam den Kopf. Dann blinzelte sie in das grelle Licht der Scheinwerfer, als suche sie im Zuschauerraum nach einem vertrauten Gesicht, warf aber sogleich das Haupt in den Nacken und setzte ihren Tanz fort.
    Wilke konnte seinen Blick nicht von der Frau lösen. Vor allem ihr Gesicht rührte ihn: die großen, stark geschminkten und ungewöhnlich weit auseinanderstehenden Augen. Augen wie die eines Hais, dachte er. Und dass er vor langer Zeit mal eine gekannt hatte, bei der es ähnlich war. Dazu die kräftigen, in ein spitzes, leicht vorspringendes Kinn mündenden Wangen. Das dunkle Haar, das ihr über die nackten Schultern floss und sich im Gleichmaß mit den wogenden Brüsten bewegte, war in der Stirn zu einem Pony geschnitten, unter dem sie wie unter einem Vorhang hervorschaute.
    Wilke hätte nicht sagen können, dass ihm die Frau sonderlich hübsch erschien. Doch die Art, wie sicher sie sich in ihrer Nacktheit zu bewegen wusste, nahm ihn immer mehr für sie ein. Selbstverständlich und anmutig zugleich erschienen ihm ihre Bewegungen. Sie gefällt mir, dachte er. Und so musste er trocken schlucken, als die Musik verstummte, die Frau sich |201| teilnahmslos verbeugte und von der Bühne ging. Von dem Tisch, an dem geraucht wurde, drang ein verhaltenes Klatschen herüber. Dann wechselte die Farbe der Strahler von Rosa in ein warmes Gelb, und Wilke konnte sehen, wie die Frau in einer sich seitlich öffnenden Tür verschwand.
    Als sie wenig später, nun mit einem weißen Kostüm bekleidet, wieder erschien und an der Bar Platz nahm, erhob sich Wilke und ging zu ihr. »Es hat mir gefallen, wie Sie getanzt haben«, sagte er, unsicher, ob er stehen bleiben oder sich auf den freien Hocker neben sie setzen sollte.
    »So, hat es das?«, antwortete die Tänzerin, ohne ihn dabei anzusehen.
    »Ja, sehr sogar!« Wilke betrachtete ihre Haare und blickte dann auf sein Bierglas, das er in der Hand hielt.
    »Sonst noch was?«, sagte die Tänzerin, nahm eine Zigarette aus der vor ihr auf dem Tresen liegenden Schachtel und angelte nach dem Feuerzeug. Und plötzlich wandte sie sich ihm zu, drehte ihren Kopf mit der gleichen kontrollierten Langsamkeit, mit der sie sich auf der Bühne bewegt hatte, und

Weitere Kostenlose Bücher