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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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Hüften gelegt, versuchte Wang mit der rechten Hand, den Kopf des Mannes aus der Schlinge zu befreien. Er zog und zerrte an dem Seil, während er den erschlafften Körper nach oben stemmte.
    Kovac musste beim Anblick der beiden an den Silberanhänger denken. Er lag zwischen alten Papieren in der Schublade seines Nachttischschränkchens. Der heilige Christophorus mit dem Jesuskind auf der Schulter.
    Wang hatte den Fremden endlich aus der Schlinge befreit und auf den Boden gelegt, als dieser sich auf einmal zu rühren begann und einen Augenblick später anfing, nach ihm zu treten und wild um sich zu schlagen. Dabei traf er ihn an der Schläfe, sodass Wang nach hinten umfiel und aus Kovacs Sichtfeld verschwand. Dann lief der Mann aus der Wohnung.
    Atemlos hatte Kovac das Ganze verfolgt. Er klappte sein Handy zu und schob es in die Hosentasche, packte den Joystick an dem Steuerungs-Board und manövrierte die Arbeitsbühne nach unten. Im Augenwinkel sah er, dass ein Mann im Haus gegenüber am Fenster stand und durch ein Fernglas zu ihm herübersah.
    Unten angekommen, kletterte Kovac aus dem Arbeitskorb und hastete, nachdem ihm auf sein Klingeln hin jemand geöffnet hatte, über die Treppe die drei Stockwerke hinauf. Im Flur hatten sich bereits Anwohner |196| versammelt. Aus der Wohnung war Klaviermusik zu hören.
    Wang lag reglos auf dem Boden. Von der Decke hing die Schlinge. Darunter stand der Stuhl.
    Nachdem Kovac ihm ein feuchtes Handtuch auf die Stirn gedrückt hatte, kam Wang langsam wieder zu sich. Wang sah ihn ganz ruhig an und sagte: »Seress, Gloomy Sunday.«
    »Was ist?«, rief Kovac gegen die laute Musik und sah Wang an.
    »Das Lied der Selbstmörder. Ist ganz berühmt. Man sagt, es treibe die Leute in den Selbstmord.«
    »Woher weißt du das?«
    »Es ist eines meiner Lieblingslieder«, sagte Wang lächelnd und schloss die Augen. »Es handelt von einem Mann, dessen Freundin gestorben ist. Er will sich umbringen, weil er glaubt, dadurch wieder mit ihr vereint zu sein. Manchmal lege ich es auf.«
    Kovac erhob sich und lief in das angrenzende Badezimmer. Im Spiegel bewegten sich seine Lippen. Seine Stimme hallte leicht in dem gekachelten Raum, als er murmelte: »Heiliger Christophorus.«

|197| Neunzehn
    Als junger Mann hatte Robert Wilke sein Geld eine Zeitlang als Fernfahrer verdient. Und wenn er heute an seine Touren nach Teheran, Istanbul oder Algier zurückdachte, überkam ihn noch manchmal ein bisschen Wehmut. Mittlerweile war Wilke sechsundvierzig und lebte noch immer allein, denn zu mehr als ein paar flüchtigen Affären hatte er es nicht gebracht. Er hatte eine Buchhändlerlehre hinter sich und zehn Jahre als Verkäufer einer Buchhandelskette. Bis er auch das irgendwann aufgegeben hatte und stattdessen eine Stelle als Verlagsvertreter eines mittelgroßen Buchverlags angenommen hatte. Seine erste Reise als Vertreter lag inzwischen sechs Jahre zurück.
    Vier Buchläden hatte er seit dem Morgen besucht, Läden, als deren Besitzer er sich früher einmal gesehen hatte. Jetzt lief er zu seinem Wagen, legte seine Tasche mit den Verlagskatalogen in den Kofferraum, schloss ab und blickte sich erwartungsvoll um. Es war ein lauer Frühsommerabend, und er verspürte einen leichten Hunger, vor allem aber Durst. Das viele Reden hatte seine Kehle ausgetrocknet, und in |198| den Schläfen registrierte er einen leichten Druck. Zu Hause hätte er eine Aspirin genommen.
    Als Schulabgänger hatte er noch manchmal mit der Idee gespielt, selbst zu schreiben, denn er bewunderte die Schriftsteller, die es verstanden, die Liebe und das Leben so zu besingen, dass man plötzlich alles für möglich hielt. Doch er hatte es nie darauf ankommen lassen. Es war ihm dann doch lächerlich vorgekommen, sich wichtigtuerisch an den Schreibtisch zu setzen und seine dürftigen Phantasien zu notieren. Dabei hätte er von Beginn an das mitgebracht, was ein großer russischer Dichter einmal als das Grundelement echten Talents bezeichnet hatte: Unzufriedenheit mit sich selber. So gesehen, hätte er vielleicht doch zum Schriftsteller getaugt. Doch das Selbstbewusstsein und jene Ausdauer und Kraft, die obendrein nötig gewesen wären, um ein Buch nicht nur zu beginnen, sondern es auch zu beenden, hatte er nicht besessen. Er war stets ausgewichen, statt sich zu stellen; im Beruf ebenso wie in Gefühlsdingen oder bei den Frauen. Und wenn es doch mal eine darauf anlegte, ihn an sich zu binden, zog er sich mit einer Notlüge aus der Affäre und

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