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Leichtes Beben

Leichtes Beben

Titel: Leichtes Beben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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sie sich wieder auf, sah ihn an und sagte: »Ich habe dir geschrieben, damals in der Schule, immer wieder habe ich dir geschrieben.«
    »Was geschrieben?«, fragte Wilke. »Wer sind Sie, nein, ich meine, wer bist du?«
    »Liebesbriefe. Und du hast mich ausgelacht, damals! Doch ich blöde Kuh konnte nicht anders, als dir immer |205| wieder zu schreiben und dir aufzulauern. O Gott, wie verknallt ich damals war!«
    Jetzt löste sie sich von ihm, ließ sich zur Seite fallen und lag auf dem Rücken. Mit der Rechten angelte sie nach einer Schachtel Zigaretten, die auf dem Nachttisch lag.
    »Liebesbriefe?« Wilke richtete sich auf. Und jetzt erinnerte er sich. »Du? Du bist das? Die Kleine aus der sechsten Klasse? Die mit den seltsamen Klamotten und der grässlichen Frisur? Die, die dauernd rot wurde, wenn sie mich sah?«
    »Genau!«
    Nun hatte sie die Schachtel zu fassen bekommen, schüttelte eine Zigarette aufs Bett und steckte sie sich mit einem Feuerzeug an, das sie unter dem Bett hervorgeholt hatte. Geräuschvoll stieß sie den Rauch aus. Und auf einmal fing sie an zu lachen. Erst gedämpft und stoßweise, schließlich ungebremst und schallend. Bis sie sich irgendwann mit der Zigarette im Mundwinkel neben ihm erhob, aufstand und auf ihn herabsah wie auf einen kleinen Jungen.
    Wilke konnte aus seiner Position ihre Augen nicht sehen, das Gesicht lag im Schatten, noch dazu von ihren dichten Haaren verdeckt. Er sah bloß ihre über ihm thronende von hinten beleuchtete Statur. Doch was er sah, klein und gespiegelt in der weißen Porzellanschale der Deckenlampe, war eine zweite, zur Miniatur gewordene Gestalt daneben, die so viele Kilometer und Jahre hinter sich gebracht hatte, um hier zu landen. Und dann lachte er ebenfalls, laut und überheblich.

|206| Zwanzig
    Sie wollte gerade ins Bett gehen, als ihr auf dem Tisch liegendes Handy klingelte. Sie hatte noch aufgeräumt und bereits sämtliche Lichter im Wohnzimmer gelöscht. Nur der Fernseher, dessen blauer Schein das dunkle Zimmer gespenstisch erhellte, lief noch.
    »Hallo?«, sagte sie und stellte mit der Fernbedienung den Ton leise. Dann horchte sie in die Stille. Doch es kam keine Antwort, nur leises Rauschen.
    »Hallo?«, fragte sie noch einmal. »Wer ist denn da?«
    Immer noch keine Antwort. Julia glaubte nun, am anderen Ende jemanden atmen zu hören, schwach und stoßweise. Doch dann dachte sie: Vielleicht bilde ich mir das nur ein, und sie war entschlossen, das Ganze durch den Druck auf die rote Off-Taste zu beenden.
    »Ich lege jetzt auf!«, sagte sie und lauschte auf das anhaltende Rauschen.
    Im Fernsehen lief ein Werbespot. Eine dunkle Limousine fuhr wie in Zeitlupe auf einer ansonsten menschenleeren Landstraße dem Sonnenuntergang entgegen. Es ist seltsam, Werbung ohne Ton zu schauen, |207| dachte Julia. Dabei habe ich diesen Spot schon x-mal gesehen und weiß genau, was gesprochen wird.
    »Also, ich lege jetzt wirklich auf!«, wiederholte sie. Doch kurz bevor sie tatsächlich auflegen wollte, hörte sie am anderen Ende plötzlich eine Stimme sagen: »Ich bin’s!«
    »Gott, hast du mich erschreckt!«, sagte Julia.
    »Bist du allein?«, fragte er.
    »Ja, ich habe mir einen Film angesehen und wollte gerade ins Bett.«
    »Wie geht es dir?«, sagte er mit seiner dunklen, kräftigen Stimme, die sie so mochte.
    »Ich weiß nicht. So lala«, antwortete Julia. »Wo bist du?«
    »In Spanien, in einer Bodega, die ›Rincón de Pepe‹ heißt.«
    »Ist es schön dort?«
    »Eine Spelunke.«
    »Kannst du das Meer sehen? Erzähl mir, was du gerade siehst!«
    »Eine dreckige, kleine und noch dazu schlecht beleuchtete Straße, und zwischen den Häuserblocks einen Fetzen Meer, der in der Dunkelheit kaum zu erkennen ist«, sagte er.
    »Schön«, sagte sie.
    »Dir würde es hier bestimmt nicht gefallen. Es ist ziemlich trostlos, ehrlich gesagt.«
    »Aber ich mag Spanien!«, erwiderte sie und versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, jetzt bei ihm zu sein.
    »Aber das hier würdest du sicher nicht mögen.«
    |208| »Warum?«
    »Ach, einfach so!« Es entstand eine Pause. Dann sagte er: »Ich vermisse dich.«
    Sie antwortete nicht. Im Fernsehen liefen nun tonlos die Nachrichten.
    »So sag doch was!«
    »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Sie hörte, wie unten auf der Straße ein Auto vorbeifuhr und als schwache Verdoppelung in der Leitung zu hören war.
    »An dem Morgen, als ich gegangen bin, haben meine Hände nach dir gerochen«, sagte er.
    Julia, die die ganze Zeit

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