Leidenschaft der Nacht - 4
Vater angehört hatte und …
Nein, er wollte nicht an seinen Vater denken. Ein verbitterter Mann, der seit sechshundert Jahren tot war, durfte keine solche Macht über ihn besitzen.
Dennoch belagerte Pierre Gauvin aufs Neue seine Gedanken, als Reign mit Olivia vor dem Versammlungsraum in der Neustadt eintraf, wo die »Freunde des glorreichen Unsichtbaren« ihren letzten Vortrag hielten. Der Titel lautete: Verehrt, nicht gefürchtet: Wider den Mythos und Aberglauben, dass Vampire von Natur aus Üble und seelenlose Kreaturen sind.
»Ich hätte Schwarz tragen sollen«, bemerkte Olivia, die sich den Rock ihres dunkelgrünen Abendkleides glatt strich. »Dann würde ich mehr wie ein blutrünstiges Monstrum aussehen, meinst du nicht?«
»Mir gefällt dein Kleid«, erwiderte Reign, der lässig auf seinem Platz in der Kutsche saß. »Es zeigt erfreulich viel Dekollet8.«
Als sie kicherte, lächelte er. Überhaupt war er sehr zufrieden mit sich, wann immer er sie zum Lachen brachte. Er liebte die entspannte, vertraute Atmosphäre, die in solchen Momenten eintrat.
»Bedauerlich, dass wir den Vortrag über das Paarungsverhalten der Vampire versäumt haben«, meinte sie schmunzelnd. »Du hättest das eine oder andere lernen können.«
Reign lachte. »Und wie hättest du zwei Stunden ruhig sitzen wollen, während dir erzählt wird, wie viel überlegener der männliche Teil der Gattung ist?«
»Das stimmt ja gar nicht! «, konterte sie.
»Selbstverständlich nicht«, bestätigte er übertrieben brav.
»Vielleicht sollten wir uns freiwillig melden, um ein paar Worte zu sagen, unsere Reißzähne zu zeigen und allen zu beweisen, was für friedliche Wesen wir sind«, schlug sie scherzhaft vor.
»Was uns leichtfallen dürfte, nachdem wir uns eben genährt haben«, ergänzte er.
»Wir dürften wohl kaum sonderlich friedliebend wirken, wenn uns inmitten so vieler Menschen der Hunger überkommt.« Sein Blick fiel auf die Wölbungen ihrer Brüste, die das tief ausgeschnittene Kleid aufs Vorteilhafteste betonte. Zu gern hätte er Olivia an sich knabbern lassen, würde sie ihm dasselbe bei ihr gestatten - was unwahrscheinlich war. Er hatte sie traumatisiert, als er sie verwandelte, und infolgedessen würde sie sich ebenso wenig von ihm beißen lassen, wie eine geschändete Frau dem Geschlechtsakt mit ihrem Vergewaltiger zustimmte.
Könnte er eines in seinem Leben ändern, wäre es seine Hochzeitsnacht. Er würde sogar beten, wenn er glauben könnte, dass es half.
In letzter Zeit benahm Olivia sich seltsam beziehungsweise noch seltsamer als sonst. Es war offensichtlich, dass sie qualvoll mit sich rang. Sie sah müde aus, beinahe erschöpft, als würde ihr alle Kraft geraubt. Doch Reign konnte ihr Vertrauen nicht erzwingen, und solange sie es ihm nicht anbot, konnte er nur vermuten, dass er Teil ihres Dilemmas war. Eigentlich sollte er sich deshalb schlecht fühlen, aber das konnte er nicht. Ihr innerer Konflikt bedeutete, dass sie nach wie vor Gefühle für ihn hegte, ob sie es zugab oder nicht, und er hätte sich eher die Zunge herausgerissen, als sich deswegen schlecht zu fühlen.
Was hatte sie mit ihm vor, sein verschlagenes kleines Weib?
Die Kutsche hielt, und der Diener öffnete die Tür. Reign stieg aus, ehe er Olivia hinaushalf. Ihre Hand in den dünnen Handschuhen war kräftig und leicht zugleich. Bei ihr brauchte er keine Angst zu haben, ihr weh zu tun, weil sie kein zerbrechlicher Mensch war. Sie war ihm so ebenbürtig, wie es eine Frau nur sein konnte. ja, sie passte perfekt zu ihm.
Nur zu ihm.
Vor der Kutsche hob sie den Kopf und blickte sich um. Ein paar andere Wagen hielten hinter ihrem, und Männer und Frauen unterschiedlicher Altersgruppen und Gesellschaftsschichten gingen an ihnen vorbei die Stufen zum Versammlungssaal hinauf. Die Nacht war erfüllt von den Düften und Geräuschen der Menschen, die lachten oder Plauderten, sowie der Pferde vor ihren Kutschen. Von der Gruppe Gleichgesinnter, die sich hier versammelten, ging eine deutlich vibrierende Energie aus.
Reign bot Olivia seinen Arm an, und gemeinsam schlenderten sie die Treppe hinauf wie ein beliebiges wohlhabendes Ehepaar, das einen interessanten Vortrag besuchte.
»Wir könnten in eine Falle laufen«, murmelte Olivia. »Vielleicht wollten sie genau das erreichen.«
Ja, diese Möglichkeit hatte Reign bereits in Betracht gezogen. »Hast du Angst?«
Ihr leises Lachen empfand er wie ein Streicheln. »Nein. Nenne mich eine Närrin, aber ich habe
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