Leidenschaft in den Highlands
Malcolm aus dem Dorf Lincairn angereist war, und Anola platziert. Er schien Averys Schwester mehr Aufmerksamkeit zu schenken als dem Geschehen am Sarg. Nacheinander trat jeder Chieftain vor, um ein leises Gebet zu sprechen und sich vor dem Verstorbenen zu bekreuzigen.
Als Amus schließlich an der Reihe war, blickte er zur Decke empor und presste beide Handflächen zusammen. Avery verstand nicht, was er sagte. Ihr fiel nur auf, dass er ungewöhnlich lange dort vorne blieb. Als er sich endlich umwandte, reihte er sich nicht wieder ein, sondern umarmte erst Ann, dann Anola und schließlich Kenlynn, die etwas abseitsstand.
Lediglich Avery bedachte er mit einem eigenartig kühlen Blick, der ihr eine Gänsehaut über die Arme jagte.
Nach ihrer letzten Aufwartung sammelten sich die Männer an der Steintafel in der Halle der Hauptburg, tranken Whisky und berieten, was zu tun sei, während sich die Frauen zurückzogen, um zu trauern.
Avery setzte sich an die Tafel zu ihren Leuten, wie sie es unzählige Male zuvor getan hatte, wenn wichtige Entscheidungen gefällt werden mussten. Verwundert sah sie in verschlossene Mienen. Niemand schien mit ihr reden zu wollen. Was hatte das alles zu bedeuten?
Die Tafel war nicht sonderlich opulent gedeckt, aber sie hatten alles, was sie brauchten: Ale und Whisky waren in rauen Mengen vorhanden, und das hatte den Männern, genauso wie Avery, bisher stets gereicht.
Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. Die Männer schwiegen, warfen sich jedoch vielsagende Blicke zu. Wahrscheinlich war die Stimmung wegen Vaters Tod gedrückt, versuchte Avery sich einzureden. Das konnte sie nachvollziehen. Es war ein großer Schock für alle. Ohne ihn fehlte die Führung. Und jeder stellte sich wohl dieselbe Frage: Wie würde die Zukunft des Clans ohne William aussehen?
Sie griff nach einem gefüllten Kelch und nippte an ihm. Whisky – für die Nerven.
»Avery, warum kümmerst du dich nicht um Kenlynn? Ich denke, sie braucht dich in dieser schweren Zeit.« Amus’ helle Stimme erinnerte sie stets an die eines Engels, hatte jedoch auch einen lauernden Unterton.
»Anola und Ann sind für Màthair da. Ich möchte an der Besprechung teilnehmen.«
Sie würde sich auch später noch um ihre Mutter kümmern können. Das Ratstreffen hatte Vorrang, schließlich ging es um ihre Ernennung zum Chief.
Avery sah, dass die Männer am anderen Ende des Tisches mit einem Mal unruhig wurden. Sie hatte das Gefühl, ihre Stimmung verschlechterte sich zusehends. Jedenfalls waren ihre Mienen finsterer als vorhin am Grab.
»Gut. Das sei dir überlassen.« Amus’ Gesicht wirkte so starr wie eine Maske, als er fortfuhr: »Abereigentlich ist das eine Angelegenheit, die unter Männern geklärt werden sollte.«
»Amus hat recht«, meldete sich der barhäuptige Liam zu Wort. »Dies ist kein Spiel mehr. Der Clan ist ohne Führung, und wir müssen entscheiden, wer von uns der neue Chief wird.«
Sie verschluckte sich am Whisky und hustete. Was, um alles in der Welt, ging hier vor? Wollten die Männer etwa die Wahl unter sich ausmachen?
»Ich glaube, da habe ich auch ein Wort mitzureden«, sagte Avery verärgert. »Jeder von euch kennt den Wunsch William MacBaines. Wollt ihr euch über ihn hinwegsetzen? Das kann nicht euer Ernst sein!«
Die Männer blieben gelassen sitzen und tranken ihren Whisky.
»Politik ist schwierig und kompliziert. Oft ist sie selbst für uns schwer zu überschauen«, erklärte der Glatzkopf sachlich. Die Spitze entging Avery keineswegs.
Der Chieftain hielt sie also nicht für klug genug, um diese wichtige Position zu übernehmen! Dabei hatte ihr Vater sie ihr ganzes Leben auf diesen Augenblick vorbereitet.
Sein Blut floss in ihren Adern. Er hatte sie alles gelehrt, was er selbst wusste. Und sie brannte darauf, allen zu beweisen, dass sie ein guter Chief sein würde. Wie konnten nur die Männer den Wunsch ihres Vaters ignorieren?
»Kaum ist Athair tot, scheint alles vergessen, wofür er stand. In diesen schwierigen Zeiten sollte der Zusammenhalt des Clans an erster Stelle stehen. Machtkämpfesind hier fehl am Platz. Wir müssen den Mörder unseres Chiefs finden!«
»In dem Punkt sind wir uns einig. Wir halten Augen und Ohren offen. Wenn er uns in die Hände fällt, wird er am Galgen baumeln. Darauf kannst du dich verlassen«, sagte ein Chieftain.
»Gut. Aber dies ist nicht alles. MacCallen war hier. Diese Halunken verlangen von uns, dass wir die Pacht innerhalb von drei Wochen abliefern.
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