Leidenstour: Tannenbergs neunter Fall
letzten Tage an. Er war der Inbegriff von Selbstbeherrschung und Souveränität. Vielen der Beobachter erschien er weitaus vitaler und lebensfroher, als sie ihn von der letzten Tour de France in Erinnerung hatten, wo die gewaltigen Strapazen der dreiwöchigen ›Tor-Tour‹ tiefe Furchen in sein ausgemergeltes Gesicht gegraben hatten.
Im Anschluss an seine kurze Ansprache nahm er noch einmal die Huldigungen seiner Fans entgegen, dann rief er nacheinander die einzelnen Mitglieder des Turbofood-Teams auf die Bühne. Der sportliche Leiter stellte die jeweiligen Rennfahrer vor und bat sie, ebenfalls ein paar Worte an die Radsportfangemeinde zu richten.
Florian Scheuermann kam als Letzter an die Reihe. Legslow lobte den Jungprofi in den höchsten Tönen und sagte ihm eine strahlende Zukunft voraus. Anschließend kürte er ihn zum neuen Hoffnungsträger des deutschen Radsports und bezeichnete ihn als Vorbild für die Jugend. Als Flo dies hörte, verspürte er einen derart heftigen Würgereiz, dass er Angst hatte, sich sofort an Ort und Stelle übergeben zu müssen.
Zitternd nahm er das Mikrofon entgegen und stammelte einige wenige Worte. Glücklicherweise hatte der Moderator offenbar einen siebten Sinn für seine Nervosität und Befangenheit, denn er befreite ihn aus dieser misslichen Lage, indem er nun zur Präsentation des nächsten Radsportteams überleitete.
Sichtbar erleichtert, dass diese Laufstegaktion für ihn endlich vorüber war, eilte Florian zur Treppe. Dabei erspähte er die junge Kriminalbeamtin, die ihn während der letzten Tage bereits zweimal im Waldhotel befragt hatte und die ihn gerade wie das siebte Weltwunder anstarrte. Daneben saß ein etwa 50-jähriger Mann, der mürrisch dreinblickte und ebenfalls bereits mehrmals in ihrem Trainingsdominzil aufgetaucht war – und der ihn genauso scharf im Visier hatte.
Florian Scheuermann hatte das Gefühl, als ob ihm gerade jemand mit eiserner Faust sein Herz umklammern und zum Stillstand bringen würde.
Was wollen die denn hier? Wollten die mich beobachten?, schossen ihm Fragen wie grelle Schmerzblitze durch den Kopf. Ich war doch eben so unheimlich aufgeregt. Dadurch habe ich mich bestimmt noch verdächtiger gemacht, als ich vielleicht sowieso schon bin.
16. Etappe
Der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission saß im K 1 hinter seinem Schreibtisch und zog in Gedanken eine ernüchternde Zwischenbilanz.
Morgen beginnt die Tour de France, sprach er zu sich selbst. Natürlich mit der Mannschaft, die letztes Jahr die Tour gewonnen hat und die bei der diesjährigen unter den Buchmachern als eindeutiger Favorit gehandelt wird. Die Tatsache, dass ich drei Mordfälle aufzuklären habe, die unmittelbar mit diesem vollgedopten Spitzen-Team zu tun haben, interessiert offenbar niemanden.
Was sind denn auch schon drei Menschenleben im Vergleich zu diesem Riesenspektakel, auf das alle Welt ganz geil ist und das offenbar unter keinen Umständen gestört werden darf. Man will gaffen, feiern, Kohle machen. So einfach ist das. Wie im alten Rom: panem et circenses. Nur dass man das gute, alte Brot heutzutage durch Turbofood ersetzt hat. Volksbelustigung und Kommerz! Da werden solche brutalen Morde höchstens als Randerscheinungen wahrgenommen.
Wolfram Tannenberg zog einen Bleistift aus der Utensilienbox und ließ ihn in Gedanken versunken über seine Fingerkuppen rollen.
Randerscheinungen, die eigentlich sogar sehr willkommen sind, denn sie schaffen einen zusätzlichen Thrillfaktor und erhöhen somit die Einschaltquoten, fuhr er in Gedanken fort. Worüber sich die Sender, die Sponsoren, die Sportler, die Gaffer, also letztendlich alle freuen. Wie hat der Hollerbach vorhin so schön gesagt:
»Ich habe gerade eine Dienstanweisung erhalten, und zwar eine von ganz oben. Sie beinhaltet die Anordnung, die Fahrer des Turbofood-Teams so lange in Ruhe ihre Vorbereitungen für die Tour de France durchführen zu lassen, bis wir hieb- und stichfeste Beweise für eine Tatbeteiligung eines oder mehrerer Radsportler vorliegen haben. Solange dies nicht zweifelsfrei der Fall ist, gilt selbstverständlich auch für diese Herrschaften die Unschuldsvermutung. Folglich dürfen alle Fahrer dieses Rennstalls morgen an den Start gehen.«
Es mussten wohl irgendwelche telepathischen Kräfte im Spiel gewesen sein, denn just bei diesem Gedankengang läutete das Telefon und Oberstaatsanwalt Dr. Sigbert Hollerbach meldete sich erneut.
»Hallo, Herr Hauptkommissar. Sie werden es mir
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